What Matters is the Numbers

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Da zählen Zahlen

Von MICHAEL HERL

Eigentlich bin ich ein positiver Mensch – wenn auch gerne mal in Leserbriefen behauptet wird, ich sei ein Muffelkopp und ewiger Nörgler. Papperlapapp! Die Leute sind schlicht nicht in der Lage, aus meinen Texten dieses absolut Lebensbejahende herauszulesen. Aber deutlicher mache ich es nicht, auf gar keinen Fall.

Häufig nämlich wird da gerne etwas verwechselt. Ich bin kein Pessimist, sondern ein Realist. Deswegen freue ich mich auch tagtäglich über schier alles, denn ich hatte es viel schlimmer befürchtet. Hat zum Beispiel ein ICE dreißig Minuten Verspätung, jubiliere ich, denn es hätte ja auch eine Stunde sein können.

Oder nehmen wir doch mal die jüngsten Skandale. Zum Beispiel den um Amazon. Ja, liebe Leute, was erwartet Ihr denn von einem amerikanischen Konzern? Dass die Chefs da morgens mit einem Liedlein auf den Lippen aufwachen, weil sie sich freuen, wieder viele Menschen mit tollen Waren beglücken zu können? Und darauf, wieder weltweit 33.000 Mitarbeitern ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern, weil die sich und ihre Lieben gut aufgehoben wissen im Schoße Amazon?

Dollarzeichen in den Augen

Nee, nee. Die haben vielleicht ein Liedlein auf den Lippen, aber nur weil ihnen gleichzeitig die Dollarzeichen aus den Äuglein purzeln! Warum soll ich denn nun entrüstet sein, wenn bekannt wird, dass die ihre Leute schlecht behandeln?

Oder nehmen wir die Sachen mit dem Pferdefleisch und den angeblichen Bioeiern. Die, die das verbrochen haben, sind keine Metzger mit rosigen Bäckchen oder Bauern mit sonnengegerbtem Antlitz. Die Farbe kommt höchstes aus dem Urlaub in Florida oder aus dem Sonnenstudio. Das sind geldgierige Businessleute, denen es vollkommen wurscht ist, womit sie handeln. Hauptsache Profit!

In den Konzernen sitzen Menschen, die sich Key-Account-Manager nennen. Jene, die den Kontakt zu den Großabnehmern suchen und pflegen. Solche Leute arbeiten heute mit vollster Hingabe in der Autoreifenbranche, morgen im Schokoladengeschäft, dann im Textilbereich, nächstes Jahr verkaufen sie Rindfleisch, übernächstes Sargschmuck, und dann verschreiben sie sich dem Rohmilchkäse. Die heuern dort an, wo es am meisten zu verdienen gibt. Und schon am ersten Tag im neuen Job sprechen sie von „wir“, als hätte ihr Urgroßvater einst das Unternehmen gegründet.

In Wahrheit geht ihnen das Produkt am Allerwertesten vorbei. Sie sind nämlich weder Bäcker noch Metzger, Schneider, Schreiner oder Weber. Sie sind Betriebswirtschaftler. Da zählen Zahlen. Da bleibt kein Raum für Sentimentalitäten. So etwas Ähnliches meinte übrigens einst Karl Marx, als er von entfremdeter Arbeit sprach. Aber mit dem darf man ja heutzutage gar nicht mehr kommen, ohne gleich als Sozialromantiker abgestempelt zu werden.

Da fällt man doch lieber alle paar Wochen aus den Wolken und wundert sich, wie so etwas möglich sein kann. Dass die uns so minderwertige Waren liefern! Das ist doch unglaublich! Wahrlich, ich sage Euch: Das ist nicht unglaublich, das ist systemimmanent. Also normal.

Weil ich das weiß, schockiert mich gar nichts mehr. Nach dem Motto „Einmal möchte ich nicht recht haben“ nehme ich leise lächelnd jeden neuen Skandal zur Kenntnis – und freue mich, dass es nicht noch schlimmer kam. Denn ich kenne die Brüder…

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