Land begrenzter Möglichkeiten
von Moritz Koch
11. März 2013
Soziale Ungleichheit in den USA
Die Börse boomt, der Immobilienmarkt erholt sich und selbst vom Arbeitsmarkt gibt es gute Nachrichten: In den USA läuft derzeit alles nach Plan, so scheint es. Doch der Aufschwung hat eine soziale Schlagseite. Die Gegensätze zwischen den Superreichen und dem Rest verschärfen sich.
Die Flut strömt in die Bucht, doch sie hebt nicht alle Boote an. Einige sind leckgeschlagen, andere haben sich verkeilt. Das Wasser steigt über sie hinweg. Es war Präsident John F. Kennedy, der die Flut als Fortschrittsmetapher populär gemacht hat. “A rising tide lifts all boats”, sagte er 1963, als Wohlstandsgewinne in den USA noch von der gesamten Gesellschaft geteilt wurden. Lange her.
Die vergangene Woche war voller guter Nachrichten. An der Börse kletterte der Dow-Jones-Index von Rekord zu Rekord, und auch vom Immobilienmarkt wurden Fortschritte gemeldet. Die Häuserpreise steigen wieder. Selbst die Beschäftigungslage verbessert sich, 236.000 Jobs hat die US-Wirtschaft im Februar geschaffen, deutlich mehr als erwartet. Der Aufschwung kommt, trotz der Selbstlähmung in Washington und der Krise in Europa. Alles läuft nach Plan, so scheint es.
Das Drehbuch für den Aufschwung stammt von Notenbankchef Ben Bernanke. Er setzt wie Kennedy auf die Kraft der Flut, der Geldflut um genau zu sein, nur dass er, ganz der Ökonom, nicht in Metaphern spricht, sondern im Fachjargon. “Vermögenseffekte” sind der Schlüsselbegriff seiner Wachstumsstrategie. Nullzinsen und Anleihenkäufe sollen die Börsen antreiben, die Immobilienpreise stützen und damit die Konjunktur anschieben. Und siehe da: Bernankes Aufschwung gewinnt an Fahrt. Soweit die gute Nachricht. Die schlechte: Das Primat der Geldpolitik hat eine soziale Schlagseite, es verschärft die Gegensätze zwischen den Superreichen und dem Rest.
Durchschnittseinkommen deutlich gesunken
Die Börse hat Höhen überstiegen, die sie nach den boomenden 90er erreicht hatte. Die Gewinne der Unternehmen haben sich seit dem Jahr 2000 verdoppelt. Allerdings sind Konzernbilanzen und Kurstafeln schlechte Indikatoren für den Gesundheitszustand einer Volkswirtschaft. Maßgeblich ist die Lage der Mittelschicht – oder das, was von ihr übrig ist.
Das Durchschnittseinkommen ist, berücksichtigt man die Inflation, seit 2000 um acht Prozent gesunken. Und der Arbeitsmarkt steckt weiter in der Krise, auch der unerwartet positive Jobreport ändert nichts daran, dass zwölf Millionen Amerikaner keine Beschäftigung finden. Das Heer der Langzeitarbeitslosen wächst und immer mehr Amerikaner brauchen Zweit- und Drittjobs, um ihren Lebensstandard zu halten.
Bernankes Aufschwung hilft der breiten Masse kaum. Nirgendwo zeigt sich das so deutlich, wie in den Studien des Wirtschaftsforschers Emmanuel Saez: Zwischen 2009 und 2011 hat das reichste Prozent der Bevölkerung Einkommensgewinne um elf Prozent erzielt, während die übrigen 99 Prozent Einkommenseinbußen von 0,4 Prozent verzeichnen mussten. Gewiss, Ungleichheit ist der Preis für wirtschaftliche Dynamik. Sie ist sogar wünschenswert, wenn sie auch dem Wohl der Schwächsten dient. Selbst der Gerechtigkeitstheoretiker John Rawls argumentierte so. Doch der moderne Finanzkapitalismus hat Rawls auf den Kopf gestellt: Er dient fast nur dem Wohl der Reichsten.
Hilfsprogramme gekürzt
Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten ist zum Mythos verkommen. “Rags to riches” nennen die Amerikaner die Aufsteigerbiografien, die als Lumpenexistenz beginnen und im Luxusleben enden. Es werden immer weniger. In kaum einer anderen Industrienation ist die soziale Mobilität inzwischen so gering wie in Amerika. Hierbei geht es nicht um Chancengleichheit. Zumindest formal stehen einem Mädchen aus den Slums von Camden, das von einer Karriere an der Wall Street träumt, keine Hürden im Weg.
Es geht um die Chance, von Chancengleichheit zu profitieren: funktionsfähige Familien, die ihren Kindern Wissensdurst vermitteln; und soziale Einrichtungen, die eingreifen, wenn Familien versagen. Ausgerechnet hier wird jedoch mit eiserner Hand gespart, seit der Kongress seinen Gestaltungsanspruch aufgegeben und sich einem Sanierungsdiktat unterworfen hat. Neben den Militärausgaben kürzt das Rotstiftregiment Hilfsprogramme wie Head Start, das einkommensschwache Kinder auf die Schule vorbereitet.
An diesem Punkt ist die Notenbank machtlos. Geldpolitik kann Krisen mindern, doch sie kann kein nachhaltiges, sozial ausgewogenes Wachstum schaffen. Bernanke braucht politische Verbündete, die erkennen, dass jetzt nicht die Zeit für blinde Sparwut ist. Im Gegenteil: Die Niedrigzinsen ermöglichen Investitionen, die sonst kaum zu bezahlen wären. Wann, wenn nicht jetzt, soll die Frühförderung ausgebaut, wann, wenn nicht jetzt, die soziale Kluft bekämpft werden?
Leider findet die Vernunft in Washington keine Mehrheit. Die Flut kommt. Viele Amerikaner können nicht schwimmen.
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