Hätte man sich im Boston-Marathon umgedreht? Hätte man geholfen? Hätte einen die Angst gelähmt? Hätte man hysterisch gebrüllt oder wäre man in der Lage gewesen, nützlich zu sein?
Es ist jetzt Dienstag 18 Uhr. Man muss das dazu sagen, denn jede Minute kann bekanntwerden, worum es sich bei den Anschlägen in Boston handelt. Jetzt wissen wir noch nichts. Die amerikanischen Sicherheitsbehörden scheinen noch nichts zu wissen. Aufgrund der sehr einfachen Zünder gehen manche Sicherheitsfachleute davon aus, dass es sich nicht um „professionelle Terrorristen“ handelt. Man glaubt also nicht an Al Kaida oder Ähnliches, sondern geht eher von einheimischen Attentätern aus.
Wer auf die Website der Tageszeitung Boston Globe geht und „Watch the Explosion“ anklickt, der sieht, was passierte, als die erste Bombe im Zielbereich der Marathonstrecke explodierte. Er sieht vor allem eine Staubwolke und er sieht, wie ein paar Läufer sich zwar umdrehen nach dem Knall, aber weiterlaufen. Von dem Anschlag in Boston werde ich dieses Bild mitnehmen. Ich habe unsere Spezies darin erkannt. Wir sind neugierig. Wir drehen uns um. Wir sehen, was passiert. Aber wir sind auch stur. Wir halten fest an dem, was wir uns vorgenommen haben. Selbst eine Explosion hält uns nicht auf. Wir sehen zu, dass wir unseren Plan einhalten. Egal, was passiert.
Die Läufer, die am Ort der Explosion vorbeirannten, werden, nachdem sie das Ziel erreicht hatten, nachdem ihre Zeit gestoppt wurde, sich, nachdem sie wieder zu Atem gekommen sind, vielleicht umgedreht haben und die wenigen Meter zum Ort der Explosion zurückgegangen sein. Vielleicht hat der eine oder der andere auch versucht, den Verletzten zu helfen. Aber auf dem sehr kurzen Video ist nur zu sehen, wie sie weiterlaufen. Das ist nicht schlimm. Das ist interessant. Nicht, weil es außergewöhnlich ist. Es ist interessant, weil es das Normalste von der Welt ist, dass wir einfach weitermachen. Aber eine Explosion – denken wir von Katastrophen verschonten Menschen – die würde einen doch aus der Bahn werfen! Offenbar nicht, wenn sie so schwach ist wie diese erste in Boston.
Insgesamt sind es jetzt in Boston drei Tote und 140 Verletzte. Die Innenstadt von Boston ist abgesperrt wie ein Tatort. In den Medien wundern sich die Kommentatoren darüber, dass die Polizei noch keinen Verdächtigen hat. Es soll alles ganz schnell gehen. Übermenschlich schnell. Alles soll wieder so sein, als wäre nichts geschehen. Die Tatortabsperrungen sollen verschwinden. Die Täter gefasst und hinter Gitter gesperrt werden. Ich bin sehr dafür. Aber ich weiß natürlich auch, dass das hilft, den Schreck loszuwerden.
Den Schreck darüber, dass wir mit einem Male daran erinnert werden, dass wir alle an einem Tatort leben. Dass dieser Schrecken uns einen kurzen Moment lang aufklärt, dass wir dann aber weiterlaufen. Wir wissen nicht, was wir mit diesem Wissen anfangen sollen. Wir haben ein schlechtes Gewissen, obwohl wir nichts getan haben. Nein, wir haben ein schlechtes Gewissen, weil wir nicht wissen, was wir tun könnten. Wir wissen nicht, wie wir richtig auf diesen Terror reagieren, geschweige denn, was wir tun könnten, ihn zu verhindern. Wir ahnen, dass solche Anschläge – seien es die eines oder mehrerer einfach Verrückter oder religiöser oder politischer Fanatiker – in einer großen, komplexen Gesellschaft dazu gehören. Wir weigern uns, dieser Ahnung nachzugeben. Wir suchen nach Gründen in der Hoffnung, so täten sich Wege auf, solche Taten für die Zukunft auszuschließen. Bis dahin überlassen wir die Sache der Polizei.
Und sitzen oder stehen jedes Mal wieder erschrocken vor dem Fernseher, wenn über einen solchen Anschlag berichtet wird. Dieser Schrecken wird schnell abgelöst vom nächsten. Diesmal ist es das Erdbeben in Iran mit – so heißt es – Dutzenden von Toten. Aber dafür fühlen wir uns weniger verantwortlich. Das ist die Tektonik der Kontinentalplatten, das sind keine gesellschaftlichen Verschiebungen. So switchen wir zurück nach Boston. Wo es noch immer heißt: „Still no arrests after deadly blasts“. Wo wir jetzt weiterlesen und erfahren von Menschen, die geflohen sind vor den Explosionen und von anderen, die den Verletzten, so gut sie es konnten, halfen oder auch nur den Sicherheitskräften zur Hand gingen bei der Beseitigung der Absperrungen, die die Zuschauer von den Läufern trennten. Erst, nachdem das getan war, konnten die Krankenwagen, konnte Polizei und Feuerwehr zu den Tatorten.
Man liest das und wieder denkt man: Wäre man weitergelaufen? Hätte man sich umgedreht? Hätte man geholfen? Hätte einen die Angst gelähmt? Hätte man hysterisch gebrüllt oder wäre man in der Lage gewesen, nützlich zu sein? Der Mensch kann dem Menschen ein Helfer sein. Nicht erst, wenn es so weit sein wird. Man sieht das dann am besten, wenn der Mensch dem Menschen ein Wolf ist.
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