Terror, Made in America

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Ein mutmaßlicher Attentäter ist tot, der andere gefasst, doch der Schrecken bleibt. Anders als die 9/11-Terroristen lebten die Verdächtigen schon lange in den USA. Jetzt muss Amerika den Ursachen des Terrors auf die Spur kommen. Denn Boston gibt Rätsel auf.

Es war der “Hundert-Stunden-Terror”. Exakt 102 Stunden, so lange lebte Boston in Furcht. Vier Tage und sechs Stunden, so lange hat ganz Amerika vor den Fernsehschirmen gesessen, hat vor Computern und am Smartphone mitgefiebert. Die Nation durchlebte eine Zeit quälender Ungewissheit, einen Marathon des Terrors. Doch was am Montag mit einem Anschlag begonnen hatte, endete Freitagnacht in einem Triumph der Polizei: Ein Bombenleger war tot, der andere schwer verletzt und verhaftet. Boston, die stolze Bürgerstadt, feiert ihren Sieg über die Angst. Und Amerika hat, wieder einmal, gegen den Terror gewonnen.

Doch der Schrecken ist nicht vorbei. Denn Boston gibt Rätsel auf. Nur eine Stunde nach dem Ende des Dramas hat Barack Obama bereits die richtigen Fragen gestellt. Von seinen Ermittlern will der Präsident wissen, wie die Tat möglich war. Ob es, da das FBI nach russischen Warnungen einen der beiden Marathonbomber 2011 einmal ins Visier genommen hatte, Pannen gab. Und ob die Brüder – wofür bisher jegliches Indiz fehlt – irgendeinem Terrornetzwerk angehörten oder fremden Drahtziehern gehorchten. Eine Frage aber richtete der Präsident an sich selbst. Und an sein Volk: “Warum greifen junge Männer, die hier aufwuchsen, zu solcher Gewalt?”

Hausgemachte Terroristen

Diese Frage ist neu für Amerika. Denn seit dem Horror des 11. Septembers 2001 kam der Terror immer aus der Fremde. Die Täter von 9/11 waren eingereiste Araber, ferngesteuert von al-Qaida. Und auch hinter jenen Attentätern, die auf einer Armeebasis in Texas 13 Soldaten ermordeten oder am Times Square von New York eine Autobombe zünden wollten, steckten stets Drahtzieher im Ausland. Diesmal aber scheint es Terror ganz und gar “Made in America” zu sein: Die beiden Einwandererkinder lebten seit mehr als zehn Jahren in Boston. Ja, der Ältere reiste monatelang in den Kaukasus, und zur grenzenlosen Welt beider Täter gehörte – per Internet – der Zugang zu islamistischen Videos. Sie mögen Fremde geblieben sein, aber sie waren, in der Sprache der Experten, “homegrown terrorists”, hausgemachte Terroristen.

Umso mehr verwundert der Zank, den einige prominente Republikaner jetzt anzetteln. Angeführt vom Alt-Senator John McCain verlangen konservative Senatoren, der überlebende Täter solle als “feindlicher Kämpfer” eingestuft werden – und gehöre vor ein Militärgericht. Als hätten Amerikas Kriminalisten nicht gerade gegen Gewalt und Terror obsiegt! Da schimmert ein Glaube an Amerikas Einzigartigkeit (“American Exceptionalism”) durch, wie er zuletzt zu oft das konservative Weltbild prägte: Amerika ist per Definition gut – und das Böse per se unamerikanisch.

Auch Barack Obama hat jetzt wieder gesagt, Amerika sei “die großartigste Nation” der Welt. Aber er meint dies nicht nur als hohles Statement. Der Präsident meint dies als patriotischen Auftrag, das Land ständig zu verbessern – und als Aufforderung, überall den Ursachen des Hundert-Stunden-Terrors auf die Spur zu kommen. Draußen wie daheim. Und rechtzeitig.

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