Obama's Totalitarian Turn

<--

Die Erkenntnis, dass das Ausspähen der Bürger mit Freiheit nichts zu tun hat, ist dem US-Präsidenten abhandengekommen. Angela Merkel muss ihn daran erinnern.

Das Ende der Privatheit ist schon oft beklagt, ebenso häufig bestritten, aber noch selten so selbstbewusst verteidigt worden: „Man kann nicht 100 Prozent Sicherheit und 100 Prozent Privatsphäre und null Unannehmlichkeiten haben.“

Dieser Satz des US-amerikanischen Präsidenten Barack Obama enthält zwei Unterstellungen, man könnte auch von Lügen sprechen. Kein Bürger – nicht in den USA und nicht in Deutschland – verlangt hundertprozentige Sicherheit, weil er weiß, dass sie nicht zu haben ist. Nur Staaten und Regierungen pflegen neue Sicherheitsgesetze mit ihrem Versprechen wider besseres Wissen zu begründen.

Und kein halbwegs aufgeklärter Bürger – weder in den USA noch in Deutschland – wird heute noch vermuten, seine Privatsphäre sei vollkommen geschützt. Aber jeder Bürger darf in einer Demokratie erwarten, dass der Staat seine Privatsphäre nicht zu hundert Prozent vernichtet, um einen hundertprozentig funktionierenden Sicherheitsapparat zu etablieren.

Nichts anderes geschieht in den USA seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001, seit mit dem Patriot Act eine Sicherheitsarchitektur errichtet wurde, die jeden Bürger als Verdächtigen, seine Privatsphäre als Refugium eines potenziellen Kriminellen und persönliche Daten als kriminalistische Spuren bewertet. Seit einigen Tagen ist klar, auf welche Kommunikation im Internet, auf welche gespeicherten Bilder und auf welche Einträge in sozialen Netzwerken der US-Militärgeheimdienst NSA zugreift: auf alle.

Betroffen sind vor allem Deutsche

Und klar ist auch, welcher von den zur Nutzung ihrer Server gedrängten Konzernen – Google, Apple, Facebook, Microsoft, Youtube, Skype und Yahoo – die Zusammenarbeit mit dem Nachrichtendienst verweigert hat: keiner.

Zwar versichert die US-Regierung, abgehört und ausgespäht würden lediglich Ausländer, also keine US-Bürger. Aber erstens ist das offensichtlich unwahr, zweitens kein Trost für die betroffenen Ausländer. Und betroffen sind vor allem die Deutschen. Kein anderes Land wird von den US-Nachrichtendiensten so hemmungslos bespitzelt wie Deutschland.

Selten wurde eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts so radikal von der Wirklichkeit dementiert wie das Urteil zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung von 1983: „Das Grundrecht gewährleistet insoweit die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen.“

Dieses Grundrecht ist vom deutschen Gesetzgeber im vergangenen Jahrzehnt immer wieder beschnitten, von Politikern verhöhnt und von Leitartiklern belächelt worden. Aber jeder Deutsche konnte sich in Karlsruhe darauf berufen. Doch gegen die Ausforschung durch US-Nachrichtendienste steht keinem Deutschen der Rechtsweg offen, weder ein US-amerikanisches noch ein deutsches Gericht nimmt seine Klage entgegen.

Allerdings ist der Staat – genauer: die Exekutive, also die Bundesregierung – verpflichtet, seine Bürger vor der kriminellen Ausforschung zu schützen und zu verhindern, dass sich das Bundesgebiet in einen rechtsfreien Raum für die US-Nachrichtendienste verwandelt. In Paragraf 201 Strafgesetzbuch heißt es: „Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer unbefugt 1. das nichtöffentlich gesprochene Wort eines anderen auf einen Tonträger aufnimmt oder 2. eine so hergestellte Aufnahme gebraucht oder einem Dritten zugänglich macht. – Ebenso wird bestraft, wer unbefugt 1. das nicht zu seiner Kenntnis bestimmte nichtöffentlich gesprochene Wort eines anderen mit einem Abhörgerät abhört …“.

Auf Snowden ruht die Hoffnung

Präsident Obama verweist zur Rechtfertigung des Datenraubs seiner Nachrichtendienste auf die US-amerikanische Rechtslage. Bei ihrer Begegnung mit Obama sollte, nein muss Bundeskanzlerin Angela Merkel ihm die deutsche Rechtslage mit Hilfe des Strafgesetzbuchs erklären. Sie empfängt nicht nur den Präsidenten der Vereinigten Staaten, sondern einen ehemaligen Verfassungsrechtler, dessen Wahl zum Präsidenten sich nicht zuletzt der Einsicht verdankte: Wenn der Staat als einziges Geheimnis die heimliche Ausforschung aller Geheimnisse aller schützt, ist das nicht Freiheit, sondern Totalitarismus.

Diese Einsicht ist Obama offensichtlich verlorengegangen, nicht aber Edward Snowden, dem jungen Internet-Spezialisten, der das Geheimnis der kollektiven Ausspähung durch die NSA verriet und sich seitdem auf der Flucht befindet. Nach den Motiven befragt, warum er sein bürgerliches Leben aufgegeben und sich als Whistleblower gegen den Sicherheitsapparat gestellt habe, antwortete Snowden, der mutmaßlich niemals eine Vorlesung zum Verfassungsrecht gehört hat: „Ich denke, dass der Öffentlichkeit eine Erklärung geschuldet wird über die Motive hinter den Leuten, die solche Enthüllungen tätigen, die sich außerhalb des demokratischen Modells befinden.“

Den US-Behörden mag Edward Snowden als Verbrecher gelten. Aber auf Menschen wie ihm ruht die Hoffnung einer demokratischen Gesellschaft.

About this publication