Viele Deutsche warnen vor einem Freihandelsabkommen mit den USA. Sie fürchten laxe Lebensmittelkontrollen. Dabei ist Amerika auf zahlreichen Feldern strenger als die EU. Der Vertrag bringt Vorteile.
Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Chlorgockels. Alle NGOs des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dieses Gespenst verbündet, Linke, Grüne und AfD sind dagegen, auch viele Sozial- und etliche Christdemokraten. Kirchen und Gewerkschaften mahnen, der deutsche Verbraucher bangt.
Stoppt den Chlorgockel, lautet die Forderung, und das heißt: Nein zum transatlantischen Freihandelsabkommen. Der Europawahlkampf befeuerte die Kampagnen gegen TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership). Jetzt, nach der Wahl, bleibt ein vergiftetes Klima zurück.
Das Abkommen würde die mächtigsten Wirtschaftsblöcke der Welt zusammenführen, Zölle verschwinden lassen und Standards vereinheitlichen. Das verspricht Impulse für Wachstum auf beiden Seiten des Atlantiks, mehr Wettbewerb, niedrigere Preise und neue Jobs. In den USA gäbe es über eine Million zusätzliche Arbeitsplätze und allein in Deutschland mehr als 180.000, schätzt die Bertelsmann-Stiftung. Für die EU wäre der Vertrag rund 100.000 Milliarden Euro wert.
Die russisch-chinesische Konkurrenz
Noch oberhalb dieser volkswirtschaftlichen Kennziffern gewinnt das transatlantische Freihandelsabkommen aus geopolitischen Erwägungen Bedeutung. Denn Moskau und Peking, beide weit mehr als bloße Regionalmächte, nehmen gerade Abschied von ihrer traditionellen Rivalität. Soeben ließen die Präsidenten Wladimir Putin und Xi Jingping seit Langem ausgehandelte Verträge unterzeichnen, die den internationalen Energiemarkt gründlich durcheinanderwirbeln. 38 Milliarden Kubikmeter russisches Gas werden in den kommenden vier Dekaden Jahr für Jahr nach China fließen. Sie strömen zu einem Discountpreis nach Osten. Aber das Abkommen liefert Putin eine Ersatzoption, während die Europäer diskutieren, wegen der Ukraine-Krise ihre Energieabhängigkeit von Russland zu reduzieren.
Im Gegenzug öffnet sich Russland chinesischen Investoren viel weiter, als es europäischen oder amerikanischen Unternehmen je angeboten wurde. Chinesische Staatskonzerne werden exklusiv in die Infrastruktur und Luftfahrt, Autoproduktion, Eisenbahnen und Kraftwerke Russlands investieren.
Russisches Gas für China, chinesische Milliarden für Russland – da wäre es ein Gebot der Stunde, dass die EU und die USA ihren noch vorhandenen Marktvorsprung nutzen, um Standards für den Handel, den Arbeitsmarkt und den Verbraucherschutz zu definieren. Die Alternative wäre, sich derartige Parameter von autoritären Marktteilnehmern wie Russland und China aufzwingen zu lassen.
Chlordioxid in unserem Wasser
Doch besagter Chlorgockel hat eine transatlantische Schockstarre ausgelöst. Das Freihandelsabkommen ebne amerikanischem Geflügel, das mittels Chlordioxid entkeimt wird, den Zugang zu europäischen Supermärkten, lautet das emotionalisierendste Argument gegen TTIP.
Chlordioxid wird weltweit zur Desinfektion von Trinkwasser verwendet. Chloride sind nach Paragraf elf der Trinkwasserverordnung für deutsches Trinkwasser zugelassen. Auch der vergiftungsfreie Badespaß im örtlichen Frei- oder Hallenbad spricht gegen die Gefährlichkeit von Chlordioxid, der chemischen Verbindung aus Chlor und Sauerstoff.
Wer einen solchen Umgang mit Fleisch dennoch als unappetitlich empfindet, mag getröstet sein. Längst zeichnet sich ab, dass die Lebensmittelsysteme Europas und der USA wegen vieler unterschiedlicher Verfahren und Bestimmungen im Abkommen ausgeklammert bleiben. Darum müsste eine neutrale Stelle begutachten, ob importiertes Fleisch die Standards und Vorschriften im Einfuhrland erfüllt. Ist das Ergebnis negativ, kommt es zu keiner Einfuhr.
Deutsche Vorurteile
Das Chlorgeflügel ist jedoch zu einem Code geworden für die arrogante Überzeugung etlicher Europäer, in der EU gebe es generell strengere Verbraucherschutz-Auflagen als in den USA. TTIP löse ein “race to the bottom”, einen Absturz aus, bei dem Standards der Lebensmittelsicherheit, des Verbraucherschutzes oder des Arbeitnehmerrechts zugunsten von Konzernen auf niedrigerem Niveau harmonisiert würden. Als weiterer Beleg für diese These gilt die weitgehende Akzeptanz genveränderter Lebensmittel in den USA, die anders als in der EU nicht kenntlich gemacht werden müssen.
Doch das dahintersteckende Vorurteil, in Amerika zähle der Verbraucherschutz weniger als in der EU, verzerrt die vielschichtige Realität. Rohmilchprodukte etwa kommen in den meisten EU-Ländern ohne besondere Auflagen in den Handel, während die US-Behörden warnen, der Verzicht auf das Pasteurisieren berge das Risiko einer Belastung mit Krankheitskeimen.
Auch die US-Finanzmarktregulierung des Dodd-Frank-Acts aus dem Jahr 2010 fällt in vielen Bereichen strenger aus als die entsprechenden EU-Vorschriften. Das gilt etwa für den Derivatehandel. Exakt mit der Begründung, die EU-Vorschriften seien nicht strikt genug, haben die Amerikaner den Bereich der Finanzdienstleistungen aus dem TTIP-Paket herausgenommen. Umgekehrt hat die EU auf Drängen Frankreichs den gesamten kulturellen Sektor aus den Freihandelsverhandlungen herausgenommen.
Wichtige geopolitische Weichenstellung
Ein Freihandelsabkommen, das ursprünglich alle Bereiche abdecken sollte, wird nun also zumindest ohne verpflichtende Vereinbarungen auf dem Lebensmittelsektor, bei den Finanzdienstleistungen und im Kulturbereich auskommen. Deutschland sorgte dafür, dass außerdem die Einrichtung von Schiedsverfahren zum Investorenschutz als Alternative zum Weg vor reguläre Gerichte wegfällt. Weitere Ausnahmen werden folgen.
Übrig blieben immer noch genügend Felder der Harmonisierung, von denen Europäer wie Amerikaner und (wegen des marktmächtigen Vorbildes) Konsumenten weltweit profitieren würden. Aber die Zuversicht sinkt, dass es in der überschaubaren Zukunft zu einem Abschluss kommt. In den USA stehen die Zwischenwahlen zum Kongress im November an, und es ist unklar, ob die Republikaner anschließend dem Präsidenten für seine letzten beiden Jahre im Weißen Haus einen solchen Vertragserfolg gönnen würden. In Europa wiederum bringen die nationalen Regierungen konträre Detailinteressen in die Verhandlungen ein. Man hat nicht immer den Eindruck, die von Barack Obama wegen der NSA-Affäre enttäuschte Angela Merkel kämpfe als Prima inter Pares mit mehr Herzblut als der Präsident für das Freihandelsabkommen.
Und dann ist da ja noch der Chlorgockel, der die öffentliche Meinung verkeimt hat und eine weltwirtschaftlich wie geopolitisch wichtige Weichenstellung zu blockieren droht. Vernunft und Realpolitik haben da derzeit das Nachsehen.
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