Der Krieg gegen den IS beginnt erst
VON MICHAEL THUMANN
26. September 2014
Die große Frage hinter den Luftangriffen auf die Terrorgruppe Islamischer Staat ist: Wer wird am Boden das militärische Werk gegen das dschihadistische Kalifat vollenden?
Es ist einer der Momente in der UN-Geschichte, in der Tausende von Politikern und Diplomaten am New Yorker East River den Atem anhalten. Die Internetverbindungen in Manhattan sind komplett überlastet, der Verkehr in der Nähe des UN-Sitzes ist wie eingefroren. Barack Obama scheint die Vereinten Nationen im Gegensatz zu seinen Vorgängern richtig ernst zu nehmen. Erst spricht er vor der UN-Generalversammlung, dann leitet der US-Präsident eine Sitzung des UN-Sicherheitsrates, zum zweiten Mal überhaupt in der Historie der Vereinten Nationen.
Barack Obama hält die Rede, die er nie halten wollte. Eine bitterernste, bisweilen auch harte, fast monothematische Ansprache. Es ist die Kriegserklärung an den “Islamischen Staat”: “Kein Gott heißt diesen Terror gut. Keine Unzufriedenheit rechtfertigt diese Taten. Es kann keine Verhandlungen mit diesem Bösen geben.” Mit dieser Rede ist US-Präsident Obama nun endlich dort angekommen, wo er nie hinwollte: in Syrien und im Irak.
Ausgerechnet Obama, der immer weg wollte aus dieser Region der ethnischen, staatlichen und konfessionellen Zerklüftung. Der das schwere Erbe seines Vorgängers überwinden wollte. Der die Truppen aus dem Irak und Afghanistan komplett abziehen wollte. Jetzt ziehen wieder US-Soldaten in den Irak, zunächst als Berater und Bodenunterstützung für die Luftflotte. Ob bald auch wieder als Kampftruppen, schließt Obama noch aus. Aber nun begrüßen ihn die streitenden Staaten, Parteien und Clans zurück in ihrer Region. Das ist die Schwerkraft des Nahen und Mittleren Ostens. Man entgeht ihr nicht.
Dieser Präsident hatte den pivot to Asia (Schwenk nach Asien) ausgerufen. Er wollte mit der klassischen Ausrichtung amerikanischer Außenpolitik brechen, in der stets Europa und der Nahe Osten die vordersten Ränge einnahmen. Das pazifische Zeitalter ist angebrochen, so viel ist richtig. Doch bedeutet das nicht, dass die alten Epochen damit beendet wären. Alles läuft gleichzeitig ab. Zu Beginn dieses Jahres brach ein Krieg inmitten Europas aus, den man seit Mitte der 1990er Jahre für unmöglich gehalten hatte: ein Nachfolgekrieg der Sowjetunion, in der Russlands Präsident Putin den Kuchen neu aufteilt, samt Eroberung von Territorium und Neuziehung von Grenzen. Obama hat Amerikas Verpflichtung zum Schutz der Nato-Verbündeten nahe der russischen Grenze bekräftigt. Europa bleibt oben auf der Sorgenliste der Amerikaner.
Der Nahe und Mittlere Osten aber wird wegen seiner zahlreichen ineinandergreifenden Kriege in den kommenden Jahren das Hauptthema bleiben. So flüstern es die meisten Politiker auf den Fluren und in den Hallen der Vereinten Nationen. Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier widmet eine Vielzahl seiner Treffen am UN-Hauptsitz dem Nahen Osten. In den provisorisch mit textilbezogenen Pappwänden eingerichteten Besprechungskabinen trifft er sich im Halbstundenrhythmus mit den Außenministern der arabischen Länder und auch des Irans. Sein Amtskollege US-Außenminister John Kerry hält es ähnlich. Selbstverständlich drängen auch andere Krisen: die Ebola-Katastrophe in Westafrika, die Ukraine-Krise, der Kongo-Konflikt. Doch dann immer wieder die Frage: Wie ist der Krieg gegen den “Islamischen Staat” zu gewinnen?
Seit Mitte dieser Woche lässt Barack Obama Kampfflugzeuge und Marschflugkörper gegen die Stellungen der Dschihadisten in Syrien fliegen. Mehr als drei Jahre nach Beginn des syrischen Krieges und ein Jahr nach der im letzten Moment abgebogenen Intervention gegen Syriens Giftgaspräsidenten Baschar al-Assad. Viele am Hauptsitz der UN finden das zu spät. Eine Minderheit hält es für voreilig, darunter natürlich die Russen, die so ziemlich gegen alles sind, was die Amerikaner machen.
Doch die große Frage hinter den Luftangriffen ist: Wer wird am Boden das militärische Werk gegen das dschihadistische Kalifat vollenden? Im Irak ist die Frage leichter zu beantworten. Die USA rüsten die irakische Armee auf, die Iraner stützen schiitische gegen sunnitische Milizen, die Deutschen liefern den kurdischen Peschmerga Waffen. Doch in Syrien? Dort bekommen die kurdischen Kräfte wegen ihrer Nähe zur PKK keine Waffen, ist die nationale Opposition gegen den IS und Assad im syrischen Nordwesten zu schwach. Die Stärkung der Kurden und der nationalen Opposition ist die größte Herausforderung im Kampf gegen den “Islamischen Staat” – und eine Antwort der Amerikaner darauf noch nicht in Sicht, abgesehen von der geplanten Bewaffnung 5.000 “moderater” syrischer Rebellen.
Aber Obama hat vor den Vereinten Nationen ein historisches Versprechen abgelegt: “Amerika ist bereit, in der Region dauerhaft engagiert zu bleiben.” Auf dieses Versprechen werden die Araber noch zurückkommen.
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