Regulate Yourself

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Entspannt aufsteigen: In vielen Konzernen ist Achtsamkeit zu einem Ritual geworden, dem man sich kaum entziehen kann. Wieso ist dann trotzdem niemand erleuchtet?

Von Felix Stephan

Als sich langsam andeutete, dass die Welt die globale Finanzkrise auch dieses Mal wieder überleben würde, gab es an der Wall Street einen Moment der kritischen Selbstüberprüfung. Etwas war offensichtlich schief gegangen: Investmentbanken mussten schließen, Milliardenstrafen zahlen oder den Staat um Hilfe bitten, Spitzenmanager wurden öffentlich gedemütigt, Banker avancierten zur unbeliebtesten Berufsgruppe der Welt. Irgendetwas musste sich gründlich ändern.

Und der Harvard-Business-School-Professor Bill George hatte genau das richtige Buch parat: In seinem Wirtschaftsbestseller Discover your true North geht es darum, dass Führungskräfte nur dann gute Entscheidungen treffen können, wenn sie authentisch sind und auf ihr Inneres hören. Dazu müssen sie es allerdings erst einmal finden, zum Beispiel indem sie Bill Georges Seminar Mindful Leadership besuchen. Zu deutsch etwa: achtsame Mitarbeiterführung.

In seinem ersten Leben war Bill George Vorstandvorsitzender eines riesigen Medizinkonzerns. Heute ist er ein weißhaariger Mann mit einem festgewachsenen Dalai-Lama-Lächeln, der Top-Managern erklärt, sie sollten ihr Selbstwertgefühl nicht vom Einkommen abhängig machen. Schließlich bestehe die wahre Herausforderung darin, sich nicht von kurzfristigen, oberflächlichen Erfolgen verführen zu lassen, sondern ein Bewusstsein für die größeren Zusammenhänge zu entwickeln.

Pflichtlektüre der Vorstände

Bill Georges Achtsamkeitslehre war vielleicht die größte regulative Neuerung, mit der sich die Wall Street nach der Finanzkrise auseinandersetzen musste: Weil sich die USA weigerten, den Banken strengere Regeln aufzuerlegen, regulierten die Manager eben ihr Inneres. Die Vorstandsvorsitzenden einiger der größten amerikanischen Konzerne erklärten Discover your true North öffentlich zur Pflichtlektüre.

In vielen amerikanischen Unternehmen ist Achtsamkeit mittlerweile ungefähr das geworden, was der Morgen-Martini in Martin Scorseses Wolf of Wall Street gewesen: ein kollektives Ritual, dem man sich kaum mehr entziehen kann, wenn man aufsteigen möchte. Google bietet seinen Mitarbeitern Selbsterfahrungskurse und Schulungen in achtsamer Esskultur an. Im Silicon Valley findet jedes Jahr die Achtsamkeitskonferenz Wisdom 2.0 statt. Und in New York haben gerade zwei ehemalige buddhistische Mönche die Coaching-Agentur Upbuild gegründet, um gestressten Angestellten beizubringen, wie sie sich ihrer Essenz bewusst werden können. Die Seminare des jungen Unternehmens wurden bisher unter anderem von L’Oreal und dem Pharmakonzern Novartis gebucht und kosten 15.000 Dollar.

Banker im Kloster

Einer der Gründer sagte dem Wall Street Journal kürzlich, er sei immer sehr gestresst gewesen, als er noch als Banker gearbeitet habe. Wirklich ausgeruht war er erst, als er seinen Job aufgab und ins Kloster ging. Daraus ist dann die Geschäftsidee entstanden: eine Beratungsagentur, die Unternehmen dabei behilflich sein soll, eine Kultur der Selbsterkenntnis zu etablieren, damit die Mitarbeiter nicht mehr ins Kloster gehen. Die Forschung zeige, so der Upbuild-Gründer, dass der Mangel an Vertrauen der wichtigste Grund für Ineffienz und Stress sei. Seine Firma habe nun vor, das herkömmliche Klima der Konkurrenz durch eine “Atmosphäre der Empathie und des Mitgefühls” abzulösen, um so das human potential der Angestellten zu optimieren.

Solche Sätze sind in letzter Zeit häufiger vorgekommen, allerdings eher in dystopischen Romanen wie Karl Wolfgang Flenders’ Greenwash Inc. oder in den Beitexten zu der leicht überspannten Digitalkunst von Kate Cooper oder Ryan Trecartin. Upbuild ist aber keine kritische Installation, sondern ein echtes Unternehmen, was wiederum die Frage aufwirft, ob die Unterschiede zwischen Kulturkritik und Entrepeneurship vielleicht nicht mehr in den Befunden liegen, sondern nur noch in der Bezahlung.

Achtsamkeit als Produkt

Für die relativ neue Variante der kommerziell produktiven Achtsamkeit hat sich jetzt in Rekordzeit der Begriff McMindfulness eingebürgert. Er beschreibt das Phänomen, dass Achtsamkeit heute allzu oft aus serieller Fertigung stammt und in leicht verdaulichen Portionen zum unmittelbaren Verzehr angeboten wird. McMindfulness sei “achtsame Praxis als Produkt, das wie jedes andere Produkt in unserer Markenkultur gehandelt wird”, mäkelte kürzlich die Zeitschrift Psychology Today. Schließlich geht es in der buddhistischen Achtsamkeitslehre seit etwa 3.000 Jahren darum, sich von oberflächlichen materiellen Werten zu lösen. Das Ziel besteht also explizit nicht darin, noch reicher zu werden, ohne sich dabei unnötig zu stressen.

Andererseits bewirkt auch die industrielle Achtsamkeit erst einmal genau das, was sie verspricht: Sie reduziert Stress und chronische Schmerzen, hilft bei leichten Depressionen und Angstzuständen. Sie funktioniert im Grunde wie ein Antidepressivum, geht aber nicht auf die Leber. Das alles ließe sich zwar im Zweifelsfall auch mit ausreichend Schlaf und ausgewogener Ernährung erreichen. Das wäre aber nicht annähernd so bedeutungsvoll.

Für jede Lösung ein Problem

Wenn McMindfulness also dazu führt, dass alle ausgeruhter sind, ist ihre Warenförmigkeit, die jetzt von einigen Traditionalisten bemängelt wird, vielleicht gar nicht in erster Linie Verrat an der Sache, sondern erst einmal begrüßenswert. Nur Achtsamkeit im Hermann-Hesse-Sinne ist es eben nicht.

Eine Gegenwart, die sich sogar den Abnabelungsprozess von der Konsumgesellschaft als Produkt vorstellt, befindet sich in einem perfekten Kreislauf: Jede Lösung schafft ein Problem, das die nächste Lösung überhaupt erst ermöglicht, und immer so fort. Im buddhistischen Weltbild ist dieser Kreislauf allerdings ziemlich genau das, was in der christlichen Lehre die Hölle ist.

Schlecht gesicherte Fabriken

Das Versprechen eines achtsamen Lebenswandels liegt gerade nicht darin, dass sich dieser Kreislauf besser aushalten lässt, sondern dass man ihn hinter sich lassen und ins Nirvana eingehen kann. Und einer der zentralen Schlüssel ist dabei das Ahimsa, die Gewaltlosigkeit, die man allerdings auch eher nicht für sich beanspruchen kann, wenn man seine Produkte in schlecht gesicherten Fabriken in Bangladesch oder Vietnam herstellen lässt, also Ländern, in denen die Mindfulness flächendeckend tatsächlich praktiziert wird.

Wahrscheinlich lässt sich der internationale Erfolg der Achtsamkeitslehre insgesamt damit erklären, dass sie all diese Widersprüche spielend überwindet und auch von Leuten unmittelbar in ihren Alltag integriert werden kann, die das Prajnaparamita nicht gelesen haben. In den Fünfzigern wurde die Achtsamkeit in den USA von den Beat-Poeten popularisiert, in den Sechzigern und Siebzigern von den Hippies. Und jedes Mal wirkte sie wie eine avantgardistische, zeitgemäße Antwort auf die Exzesse der industriellen Moderne: auf Kriege, Fließbandarbeit, Konsumbesessenheit.

Königreich Apple

Das hat sich erst mit der Figur Steve Jobs geändert: Der Apple-Gründer war der erste, der auf der größtmöglichen Bühne vorgeführt hat, dass buddhistische Introspektion nicht nur etwas für langhaarige Polygamisten ist, sondern auch dabei behilflich sein kann, den teuersten Konzern der Welt aufzubauen. Seit Steve Jobs sich offen zum Zen-Buddhismus bekannte, war Achtsamkeit erstmals in der westlichen Popkultur keine Alternative mehr, sondern im Königreich Apple gewissermaßen Staatsreligion. Die Ansicht, dass einer Erneuerung der Gesellschaft zuerst eine Erneuerung des eigenen Selbst vorausgeht, gehörte nun nicht mehr exklusiv Poeten wie Jim Morrison und Gary Snyder, sondern hochbezahlten Ingenieuren und Managern.

Und in diesem Kontext ist die Warenförmigkeit, in der die Achtsamkeit heute oft verabreicht wird, in erster Linie konsequent: Von Slavoj Žižek stammt die Beobachtung, dass eigentlich mehrheitsfähige Ideen wie ökologische Nachhaltigkeit oder globale Gerechtigkeit von den Konsumenten verlangen, dass sie ihren Lebensstil radikal ändern, was allerdings niemand ernsthaft vorhat.

Wenn man diese Ideen hingegen als Produkt vermarktet, können alle weiterhin genau das machen, was sie immer gemacht haben. Es fühlt sich nur besser an. Nur wenn eine Idee als Produkt auftritt, kommt man in den Genuss ihrer Vorteile, ohne gleichzeitig von den unangenehmen Pflichten belästigt zu werden. Deutsche Philosophen haben das lange als verheerend empfunden. Dabei ist es erst einmal nur angenehm unverbindlich. Wenn man schon mal die Gelegenheit bekommt, sein Leben absolut nicht zu ändern, sollte man sie wahrscheinlich auch nutzen. Sie kommt vielleicht nie wieder.

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