Der linke Präsidentschaftskandidat gibt dem Zorn junger Amerikaner eine Stimme. Ihre Enttäuschung über das Platzen seiner Versprechen wird groß sein.
Das Amerika, in dem Bernie Sanders lebt, ist ein unwirtlicher Ort. Millionäre und Milliardäre haben sich eine korrupte Herrschaftsform geschaffen, in welcher sie sich Wahlen und Kandidaten kaufen können. Das Wirtschaftssystem ist manipuliert, an seiner Spitze thronen die Bankiers und Couponschneider von der Wall Street, deren Geschäftsmodell der Betrug ist. Doch glücklicherweise gibt es einen Ausweg aus dieser Dystopie, nämlich Sanders’ „politische Revolution“. Sie umfasst ein staatliches Arbeitsbeschaffungsprogramm für 13Millionen Menschen, kostenloses Studium an allen öffentlichen Hochschulen, eine Verdopplung des gesetzlichen Mindestlohns auf 15Dollar pro Stunde und eine staatliche Krankenversicherung für jedermann nach europäischem Vorbild.
Das zieht, vor allem bei den Jungen. Selbst bei jenen demokratischen Vorwahlen, die Sanders verliert, erzielt er in der Gruppe der 18- bis 29-Jährigen überwältigende Mehrheiten. „Die nächste Generation der Wähler bevorzugt ihn“, resümiert der „New Yorker“. Es sei eine demografische Gewissheit, dass Sanders’ Revolution nach der zu erwartenden Kür von Hillary Clinton zur demokratischen Präsidentschaftskandidatin nicht erlöschen werde, befindet Bloomberg News.
Ist das tatsächlich so? Ist Sanders’ politisches Programm, gestützt von Legionen enthusiastischer junger Anhänger, dazu angetan, Amerika zu revolutionieren? Diese These, die auch in Europa so manchem Veteranen der 68er-Generation die Seele wärmt, krankt an mehreren Denkfehlern. Der erste besteht darin, angesichts von Sanders’ Popularität bei der Jugend zu übersehen, dass keine Altersgruppe so unzuverlässig wie die 18- bis 29-Jährigen von ihrem Wahlrecht Gebrauch macht. Das kann man in den Erhebungen der US-Statistikbehörde klar sehen. Bei der Präsidentenwahl 1996 machten die Jüngsten 22 Prozent der Wahlberechtigten aus, aber nur 14,9 Prozent der tatsächlichen Wähler. Die über 65-Jährigen hingegen waren bloß 17,2 Prozent der Stimmberechtigten, aber 20,3 Prozent der Wähler. Seit zwei Jahrzehnten steigt der Anteil der Wähler über 45 Jahren bei Präsidentenwahlen ununterbrochen, von 53,3 Prozent auf 61,4 Prozent im Jahr 2012. Die Jungen blieben den Urnen stets überdurchschnittlich oft fern – selbst im Jahr 2008, als Barack Obama sie mit dem Appeal eines Popstars elektrisierte, hatten sie mit 17,1 Prozent gegenüber 19,5Prozent der ganz Alten das Nachsehen. Diesen Trend wird der 74-jährige Sanders nicht brechen; er ist kein Obama.
Noch niedriger ist die Wahlbeteiligung der Jugend bei den Zwischenwahlen zum Kongress. Das ist der zweite Grund, an den Chancen der Sander’schen Revolution zu zweifeln. Vom Gratisstudium über den verdoppelten Mindestlohn bis zur allgemeinen Krankenversicherung brauchte es Mehrheiten in beiden Kongresskammern. Doch vor allem das Abgeordnetenhaus wird auf absehbare Zeit in den Händen der Republikaner bleiben, deren mehrheitlich ältere Anhänger konsequent zu jeder Wahl gehen. Zur Erinnerung: Selbst in den Jahren 2009 und 2010, als die Demokraten den Kongress kontrollierten, fand sich keine Mehrheit für eine Krankenversicherung à l’européenne.
Der dritte Grund dafür, dass Sanders seine jungen Fans enttäuschen wird, liegt in der allgemeinen Stimmung im Land. Gewiss: Viele Amerikaner sind missmutig, weil ihre Einkommen seit einiger Zeit real kaum steigen. Doch eine neue Erhebung des Pew Research Center belegt, dass sich die Stimmung in Obamas zweiter Amtsperiode deutlich verbessert hat. Seit Dezember 2011 ist die Zahl der Amerikaner, die ihre persönliche finanzielle Lage für gut oder sogar exzellent befinden, um fünf Prozent gestiegen. Die Zahl derer, die sagen, ihr Einkommen halte mit den Lebenshaltungskosten Schritt, ist in der oberen, mittleren und unteren Gesellschaftsschicht um acht, neun und sieben Prozent gestiegen.
Revolutionäre Verhältnisse sehen anders aus. Bernie Sanders ist sich hoffentlich der Verantwortung für das Erwartungsmanagement seiner jungen Anhänger bewusst. Es wäre schade, würden sie angesichts des Platzens seiner Versprechen zu Zynikern werden.
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