Die Entfremdung
US-Vizepräsident Mike Pence war lange Donald Trumps loyaler Gefolgsmann. Erst ganz zuletzt kam es zum Bruch. Nun könnte er den Präsidenten stürzen. Aber will er das auch?
Mike Pence ist ein stoischer Typ. Nicht die schlechteste Eigenschaft als Vizepräsident von Donald Trump. Vier Jahre lang hat Pence alles mitgetragen, was der US-Präsident im Oval Office verantwortet hat. Noch im Wahlkampf inmitten der Corona-Pandemie verteidigte Pence im TV-Duell mit Kamala Harris jede Entscheidung und jegliches Verhalten der Regierung. Das war seine Rolle und er spielte sie perfekt.
Selbst eine Fliege, die länger als eine Minute auf dem Kopf von Pence saß, brachte den 61-Jährigen nicht aus der Ruhe, während er versuchte, rassistisches Verhalten der Trump-Regierung kleinzureden. Inwieweit der Spott über die Fliege – die gar eigene Twitter-Accounts bekam – Pence verletzte, ist nicht überliefert. Aber man kann davon ausgehen, dass die Jahre an Trumps Seite auch gegen das ein oder andere Meme abhärten.
Doch nach der verlorenen Wahl am 3. November begann eine Entfremdung zwischen Trump und Pence, die in der vergangenen Woche schließlich zum Bruch führte. Einem Bruch, den Pence herbeiführte und der ihn in diesen letzten Tagen von Trumps Präsidentschaft ins Zentrum der Frage rückt, ob man Donald Trump absetzen sollte. Die Mehrheitsführerin der Demokraten im Repräsentantenhaus, Nancy Pelosi, hat Pence ein Ultimatum bis Mittwoch gesetzt, den 25. Verfassungszusatz zu nutzen und Trump mit einer Mehrheit des Kabinetts für amtsunfähig zu erklären. Ansonsten wollen die Demokraten ihr Amtsenthebungsverfahren forcieren, dessen Resolution sie am Montag verabschiedet hatten.
Dass Pence in dieser für ihn unangenehmen Position ist, hat seinen Ursprung in Trumps Weigerung, das Wahlergebnis zu akzeptieren. Nachdem alle Versuche des Präsidenten, seine Niederlage aufzuhalten, gescheitert waren, wandte sich Trump am vergangenen Montag auf einer Wahlkampfveranstaltung in Georgia schließlich öffentlich an seinen Vizepräsidenten. “Ich hoffe, er kommt durch”, sagte der Präsident da und meinte damit schlicht, Pence solle die Stimmen des Electoral College nicht akzeptieren. Doch diese Macht hat der Vizepräsident nicht. Als Präsident über den Senat ist es ein formaler Akt für den Vizepräsidenten, den Sieger der Präsidentschaftswahl auszurufen.
Doch Loyalitäten lassen sich nicht so leicht abstreifen. Pence ging rhetorisch zunächst nicht in die Offensive. Eine Klage von Republikanern, die seine Vollmachten so ausweiten sollte, dass er die Wahl für ungültig hätte erklären können, unterstützte Pence allerdings auch nicht. Er bat den Richter, die Klage abzuweisen, weil er nicht der Richtige sei, um darüber zu entscheiden.
“Wenn Mike Pence das Richtige tut, werden wir gewinnen”
Einen Tag vor dem Sturm auf das Kapitol soll Pence bei seinem wöchentlichen Mittagessen mit dem Präsidenten laut New York Times gesagt haben, dass er nicht die Befugnisse habe, die Wahlergebnisse zu verändern. Auch da waren es noch Formalitäten, hinter denen sich Pence verschanzte.
Die Eskalation zwischen dem Präsidenten und seinem Vize erfolgte erst an dem Tag, an dem im Land alles eskalierte. Noch bevor Trump-Anhänger die Barrikaden am Kongress überwanden und das Gebäude stürmten, schrieb Pence in einem dreiseitigen Statement, dass es “mein wohlüberlegtes Urteil ist, dass mein Eid, die Verfassung zu unterstützen und zu verteidigen, mich daran hindert, einseitige Autorität zu beanspruchen, um zu bestimmen, welche Wahlstimmen gezählt werden sollen und welche nicht”.
Es war eine öffentliche Absage an Trumps Aufforderung, die der am selben Tag erneut vor seinen Unterstützerinnen wiederholt hatte. “Wenn Mike Pence das Richtige tut, werden wir gewinnen”, hatte Trump da gesagt. Pence jedoch tat, zumindest aus der Sicht Trumps, das Falsche.
Keiner, der Trump die Show stiehlt
Als der Kongress nach den Unruhen wieder zusammenkommen konnte, bestätigte Pence Joe Bidens und Kamala Harris’ Wahlsieg. Menschen aus Trumps Umfeld sind für weit weniger in Ungnade gefallen. Pence’ Weigerung, die Fakten wie die Verfassung zu ignorieren, war der ultimative Betrug. Seitdem herrschte Schweigen zwischen Trump und Pence. Er habe Pence noch nie so wütend erlebt, sagte Jim Inhofe, Senator aus Oklahoma, der Tulsa World. “Er sagte: ‘Nach all den Dingen, die ich für ihn (Trump) getan habe'”, wird Inhofe zitiert. Am Montag haben die beiden laut CNN das erste Mal wieder miteinander geredet, “um die bevorstehende Woche zu besprechen”.
Dass Trump Pence’ Verhalten nicht einfach hinnehmen würde, sollte Pence nicht überraschen. Er hat im Weißen Haus live miterlebt, wie Trump mit Mitarbeiterinnen umgeht. Seinen Vizepräsidenten nahm er davon jedoch bislang aus. Denn in der Tat hatte Pence ihm dafür bislang keine Angriffsfläche geboten. Zwar gehörte Pence 2016 nicht zu den frühen Unterstützern von Trumps Präsidentschaftskandidatur, stellte sich aber hinter diesen, als er die Vorwahlen gewonnen hatte. Pence selbst beschreibt sich immer wieder als “einen Christen, einen Konservativen und einen Republikaner, in dieser Reihenfolge”.
Damit machte er sich zum idealen Vizepräsidenten für Trump. Pence brachte als früherer Gouverneur und zuvor Abgeordneter im Repräsentantenhaus genug Erfahrung mit, war in Washington, D. C., gut vernetzt und beliebt bei den wichtigen konservativen, evangelikalen Wählerinnen und Wählern. Als Gouverneur hatte er in Indiana eines der striktesten Schwangerschaftsabbruchverbote des Landes unterzeichnet und er war der erste amtierende Vizepräsident, der eine Rede beim March for Life hielt, einer Demonstration von Abtreibungsgegnern. Er unterstützte außerdem ein Gesetz, das es religiösen Firmen erleichtert hätte, homosexuelle Paare nicht zu bedienen.
Darüber hinaus war Pence ob seiner Persönlichkeit unverdächtig, Trump die Show oder die Schlagzeilen zu stehlen. Und das tat er auch nicht. Kritik an Trump hörte man vom Vizepräsidenten in den vergangenen vier Jahren nicht. Pence verteidigte alles – beim Thema Klimawandel etwa sagte er während seines TV-Duells mit Harris, dessen Ursache sei unklar. Er schwieg zu allen Ausfällen aus dem Oval Office und stand während des ersten Amtsenthebungsverfahrens fest an der Seite seines Chefs. Damals sagte er, Trump habe “nichts falsch gemacht”.
Nach der Wahlniederlage wurde Pence schweigsam
Im Februar 2020 machte Trump Pence zum Verantwortlichen für die Coronavirus-Taskforce. Er spielte die Gefahr der Pandemie ebenso herunter wie Trump und sagte noch im August, er könne nicht “stolzer” auf Trumps Führung sein. Als Pence für seine täglichen, ruhigen und tatsächlich sachlichen Pressekonferenzen Aufmerksamkeit erfuhr, riss Trump die Covid-Updates wieder an sich. Pence beklagte sich nicht. Und tourte ähnlich wie Trump durchs Land und besuchte Wahlkampfrallys ohne Covid-Protokoll.
Als nach dem 3. November feststand, dass das Ticket Trump/Pence keine Zukunft mehr im Weißen Haus haben würde, wurde Pence schweigsam. Er unterstützte Trumps haltlose Behauptungen über einen angeblichen Wahlbetrug nicht, twitterte lediglich spärlich und konzentrierte sich ansonsten auf die Covid-Taskforce.
Pence ist nicht für eine Trump-Welt außerhalb des Weißen Hauses gemacht. Er ist Berufspolitiker. Es wurde Zeit für Pence, an seine Karriere nach dem Weißen Haus zu denken. Vielleicht besann er sich in diesen finalen Tagen auch wieder auf seine eigene Selbstbeschreibung. Sein Christ-zuerst-Mantra wird in den vier Jahren an Trumps Seite das ein oder andere Mal auf der Prioritätenliste weit nach unten gerutscht sein. Mit seiner Entscheidung, im Kongress einfach seinen Job zu machen, hat Pence die Verbindung zu Trump gekappt und seine Zukunft in der Partei offengehalten.
An der Amtseinführung Bidens wolle Pence teilnehmen, heißt es. Dass er sich von den Demokraten unter Druck setzen lassen wird und Trump für amtsunfähig erklären lässt, ist dennoch eher unwahrscheinlich. Es wäre kein Manöver, das ihm nützen würde. Zu unklar ist noch, wie die eigene Partei künftig mit Trump und dessen Erbe umgehen wird. Da wird der Vizepräsident die letzten sieben Tage der Trump-Präsidentschaft eher stoisch aussitzen. Aber darin hat Mike Pence ja Übung.
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