The Comeback Of Statism

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Das Comeback des Staates

Jörg Michel

Es ist noch nicht lange her, da gehörte der Staat noch zu einer aussterbenden Art. Da sprach ein amerikanischer Präsident in einer viel beachteten Rede davon, dass die Regierung im Wirtschaftsleben eigentlich nichts zu suchen habe. Da kündigte ein Bundeskanzler an, die Leistungen des Staates müssten reduziert und die Eigenverantwortung der Menschen gestärkt werden. Da prägte ein bundesdeutscher Wirtschaftsminister den Slogan, Wirtschaftspolitik werde vor allem in der Wirtschaft gemacht. In den letzten zwanzig Jahren schien der Siegeszug des Marktes unaufhaltsam, der Niedergang des Staates endgültig. So jedenfalls wurde die Geschichte gern erzählt. Auf den Fluren der Macht, in den Chefetagen der Wirtschaft, in den Hörsälen der Hochschulen.

Doch nun auf einmal ist alles anders. Der Staat erlebt dieser Tage ein erstaunliches Comeback. Ausgerechnet auch in einem Land, in dem die Freiheit des Einzelnen und das individuelle Streben nach Glück gleichsam zur Staatsdoktrin gehören. Und in dem die Regierung den Neokonservativismus im Inneren und Äußeren zur Perfektion bringen wollte. Wenn der amerikanische Präsident George W. Bush und sein Finanzminister der angeschlagenen US-Finanzbranche nun also mit einem so noch nie da gewesenen 700-Milliarden-Dollar-Hilfspaket aus der Patsche helfen müssen, dann ist das nicht nur Ausweis des Versagens eines Großteils der Wirtschaftseliten und deren Aufsicht. Es bedeutet auch das Scheitern jener ökonomischen Denkschule, die bis vor Kurzem als die einzig wahre und richtige galt.

Im Klartext: Weil der Finanzwelt im globalen Spiel des Geldes die Kontrolle über ihre eigenen Regeln entglitten ist, muss der Staat, und damit die Gesamtheit aller Bürger, jetzt für dieses Scheitern gerade stehen. Während die Eliten der Wirtschafts- und Finanzbranche über Jahrzehnte die Freiheit des Marktes beschworen und die so erzielten Gewinne mitgenommen haben, legen sie die Risiken jener Freiheit, und damit auch die Verluste, nun wie selbstverständlich auf die Allgemeinheit um. Noch ist das Ausmaß der Löcher, die auf die Steuerzahler und Verbraucher zukommen, gar nicht absehbar. In den USA wie in Europa.

Es ist also eine Ironie der Geschichte, dass der Staat nun ausgerechnet jene retten muss, die ihn immer möglichst klein halten wollten. Die am meisten von der Globalisierung profitiert haben und es durch Macht und Einfluss geschafft haben, den wirtschaftlichen und sozialen Gestaltungsspielraum der Regierenden gering zu halten. Auf Geheiß der Wirtschaft wurden die Steuern gesenkt, es wurde dereguliert und privatisiert. Die breite Masse der Bürger aber hat davon nur wenig profitiert. Die Schere zwischen Arm und Reich geht weiter auseinander, die Reallöhne sinken, die Infrastruktur erodiert.

Es spricht also viel dafür, die Rolle des Staates neu zu überdenken. Das Staatsverständnis der Neokonservativen jedenfalls ist obsolet. Man kann nicht, wenn es um die innere Sicherheit geht, einen starken Staat forcieren (um so den Kampf gegen den internationalen Terrorismus zu gewinnen), ihn bei der ökonomischen Sicherheit aber außen vor lassen. Während viele US-Bürger von ihren Sicherheitsbehörden bis aufs Messer überwacht werden und auch die Deutschen immer mehr Bürgerrechte aufgeben müssen, unterlagen Investmentbanken wie Morgan Stanley oder Goldman Sachs in den USA nur einer äußerst laxen Aufsicht. Auch in Europa ist der behördliche Einfluss auf Banken begrenzt. Und dort, wo es im Gemeinwesen noch einen Rest an staatlicher Kontrolle gibt, ist sie oft ineffektiv.

Beispiel Energie: Als in Deutschland die einst in Staatsbesitz befindliche Branche privatisiert wurde, geschah dies mit den Versprechen auf mehr Wettbewerb und sinkende Preise. Heute wird der Markt von vier Oligopolisten beherrscht, die Energiekosten steigen immer weiter, die Regulierungsbehörde ist machtlos. Beispiel Umwelt: Als in den USA der Hurrikan “Katrina” New Orleans verwüstete, versagte der Staat bei seiner ureigensten Aufgabe, der Sicherung von Leib und Leben seiner Bürger, kläglich.

Und so hat ein Umdenken in Wahrheit längst begonnen. Nicht nur bei der Bewältigung der Bankenkrise. Jener US-Präsident, der einst den Staat aus dem Wirtschaftsleben hinaushalten wollte, hat erst kürzlich ein milliardenschweres Konjunkturpaket auf den Weg gebracht, weil er den Selbstheilungskräften des Marktes allein nicht mehr traut. Jener Bundeskanzler, der einst die Leistungen des Staates reduzieren wollte, muss nun hinnehmen, dass seine Partei in der Regierung die Leistungen wieder ausweitet. Jener Wirtschaftsminister, der die Politik einst den Managern überlassen wollte, könnte nun beobachten, wie einer seiner Nachfolger darüber nachdenkt, den Energiekonzernen die Eigenständigkeit über ihre Stromnetze zu entziehen. Der lange tot geglaubte Staat erwacht also zu neuem Leben. Und die Rote Liste der gefährdeten Arten wird um eine Spezies kürzer.

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