“Occupy”-Bewegung ist Zeichen für einen Weltkrieg
von Naomi Wolf
03.11.2011
Politik und Unternehmen sind auch in Demokratien miteinander verfilzt und kämpfen paramilitärisch gegen die eigene Bevölkerung. Die Bürger müssen sich dagegen wehren.
Es scheint, als hätten die Politiker der USA genug von der Demokratie. Überall im Land werden Zeltlager, die von Anhängern der Occupy-Wall-Street-Bewegung errichtet wurden, auf Anordnung lokaler Behörden von der Polizei geräumt – manchmal mit schockierender und unnötiger Gewalt. Beim bislang schlimmsten Vorfall haben Hundertschaften der Polizei in schwerer Schutzausrüstung das Lager von Occupy Oakland umstellt und Gummigeschosse (die tödlich sein können), Blendgranaten und Tränengas abgefeuert.
Einige Polizeibeamte haben dabei direkt auf Demonstranten gezielt. Die Twitter-Meldungen von Occupy Oakland lesen sich wie ein Bericht vom Kairoer Tahrir-Platz: “Sie umstellen uns”; “Hunderte von Polizisten”; “gepanzerte Fahrzeuge werden eingesetzt”. Es gab 170 Festnahmen.
Unlängst wurde ich selbst festgenommen, während ich friedlich auf einer Straße in Manhattan stand. Das hat mir die Realität dieses harten Durchgreifens deutlich gemacht. Amerika wacht auf und sieht, was geschehen ist, während es schlief: Seine Polizisten werden von privaten Unternehmen umworben (die Großbank JP Morgan Chase hat der New York City Police Foundation, der Stiftung der New Yorker Polizei, 4,6 Mio. Dollar an Spenden zukommen lassen); das Ministerium für innere Sicherheit der Vereinigten Staaten hat kleinere Polizeibehörden auf kommunaler Ebene mit militärspezifischen Waffensystemen ausgerüstet; die Bürgerrechte der Rede- und Versammlungsfreiheit sind schleichend durch undurchsichtige Genehmigungsauflagen zersetzt worden.
Plötzlich wirken die USA wie der Rest der wütenden, aufbegehrenden, nicht ganz freien Welt. Tatsächlich haben viele nicht begriffen, dass ein Weltkrieg im Gange ist. Er unterscheidet sich von allen vorherigen Kriegen in der Geschichte der Menschheit. Zum ersten Mal identifizieren und organisieren sich Menschen in aller Welt nicht anhand nationaler oder religiöser Gesichtspunkte.
Was hier zählt, sind eher ein globales Bewusstsein sowie Forderungen nach einem friedlichen Leben, einer nachhaltigen Zukunft, wirtschaftlicher Gerechtigkeit und Basisdemokratie. Ihr Feind ist die Verfilzung von Unternehmen und Politik – eine globale Corporatocracy, die Regierungen und Gesetzgeber gekauft hat. Diese Corporatocracy benötigt eigene Bewaffnete, sie steht für die Verwicklung in systemische Wirtschaftskriminalität und lässt Staatskassen sowie Ökosysteme plündern.
Überall auf der Welt werden friedliche Demonstranten dagegen protestieren. Demokratie ist irritierend. Martin Luther King vertrat die Ansicht, dass es gesund ist, den “gewohnten Gang der Dinge” auf friedliche Art und Weise zu stören, damit verborgenes Unrecht zutage tritt, das man anschließend bekämpfen kann.
Idealerweise sollten sich Demonstranten der disziplinierten, gewaltfreien Störung widmen – insbesondere der Störung des Verkehrs. So können auch Provokateure im Zaun gehalten und gleichzeitig die Aufmerksamkeit auf die ungerechtfertigte Militarisierung des polizeilichen Vorgehens gelenkt werden. Notwendig sind Sitzblockaden oder Besetzungen von Arealen über längere Zeiträume.
Das ist ein Grund, warum Demonstranten eigene Anwälte beschäftigen sollten, mit eigenem Geld. Sie sollten ein Heer von Anwälten aufbieten. Der Gedanke, dass Bürger die Rechtsstaatlichkeit zurückerobern werden, versetzt die Corporatocracy in Angst und Schrecken.
Teil 2: “Wäre es nicht einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?”
Genauso sollten die Protestler ihre eigenen Medien gestalten, anstatt sich auf die Berichterstattung von Medienunternehmen zu verlassen. Sie sollten bloggen, twittern, Leitartikel und Pressemitteilungen verfassen, Fälle von Missbrauch polizeilicher Gewalt protokollieren sowie die Täter benennen. Leider gibt es viele dokumentierte Fälle gewalttätiger Provokateure, die Demonstrationen an Orten wie Toronto, Pittsburgh, London und Athen unterwandert haben. Doch auch Provokateure müssen fotografiert und erfasst werden. Deshalb ist es wichtig, das Gesicht beim Demonstrieren nicht zu vermummen.
Protestler in Demokratien sollten lokale E-Mail-Verteiler erstellen und beginnen, Wahlberechtigte zu registrieren. Sie sollten ihren öffentlichen Vertretern mitteilen, wie viele Wähler sie registriert haben. Und sie sollten dafür sorgen, Politiker aus dem Amt zu entfernen, die brutal oder repressiv vorgehen. Sie sollten jene im Staatsapparat unterstützen, die – wie etwa in Albany (New York), wo sich die Polizei und der Staatsanwalt geweigert haben, hart gegen Demonstranten durchzugreifen – das Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit achten.
Viele Demonstranten beharren darauf, führungslos bleiben zu wollen. Das aber ist ein Fehler. Demonstranten sollten Repräsentanten für eine begrenzte “Amtszeit” wählen und sie für Gespräche mit der Presse und Verhandlungen mit Politikern schulen. Die Proteste sollten die Art von Zivilgesellschaft abbilden, die ihre Beteiligten schaffen wollen. Die Idee ist, eine neue Stadt inmitten der korrupten Stadt aufzubauen und zu zeigen, dass sich darin die Mehrheit der Gesellschaft widerspiegelt und keine zerstörerische Randgruppe.
Jahrzehntelang wurden Bürger angehalten, den Kopf einzuziehen – ob in einer von übersteigertem Konsum geprägten Fantasiewelt oder in Armut und Schufterei – und die Führung den Eliten zu überlassen. Protest aber ist transformativ, gerade weil Menschen hervortreten, sich von Angesicht zu Angesicht begegnen und neue Institutionen, Beziehungen und Organisationen aufbauen.
Nachdem 1953 die Kommunisten in der DDR brutal gegen demonstrierende Arbeiter vorgegangen waren, hat Bertolt Brecht die Frage gestellt: “Wäre es nicht einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?” In den USA und in zu vielen anderen Ländern nehmen Regierungen Brechts ironische Frage offenkundig viel zu ernst.
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