Amerikanischer Instinkt
Von Thomas Gutschker
15.12.2012
Nach jedem Massaker wird über Waffengesetze gestritten. Tatsächlich werden sie immer laxer. Vor seiner Wiederwahl wollte Obama keine Verschärfung der Gesetze wagen – jetzt wäre der Zeitpunkt.
Präsident Obama rang um Fassung, als er am Freitagabend erstmals Stellung nahm zu der tödlichen Schießerei in Newtown, Connecticut. „Wir haben zu viele dieser Tragödien in den letzten paar Jahren durchgemacht“, sagte er und wiederholte das kurz darauf noch einmal. Obama erinnerte an traumatische Vorfälle aus jüngerer Zeit. Erst im Juli hatte ein Angreifer ein Blutbad in einem Kino von Aurora angerichtet, dabei zwölf Menschen umgebracht und 58 verletzt. Kurz darauf erstürmte ein Rechtsradikaler einen Tempel in Milwaukee und erschoss sechs Sikhs.
Und erst am Mittwoch hatte ein Attentäter zwei Passanten in einem Einkaufszentrum von Oregon getötet. Obama verwies auch auf die alltägliche Kriminalität an der „Straßenecke von Chicago“, seiner Heimatstadt, die in Gewaltstatistiken seit je schlecht abschneidet. Dann fügte er etwas Grundsätzliches hinzu: „Und wir werden zusammenkommen müssen und wirkungsvolle Maßnahmen ergreifen, um weitere solche Tragödien zu verhindern – unabhängig von politischen Spielchen.“
Obama sagte nicht: Ich will schärfere Waffengesetze. Darauf wies sofort Michael Bloomberg hin, der unabhängige Bürgermeister von New York, der sich seit langem genau dafür einsetzt. Es sei nun genug mit der Rhetorik, das Weiße Haus müsse endlich Führung beweisen, monierte Bloomberg. Und doch genügte schon Obamas Bemerkung, um den Pawlowschen Reflex von Republikanern auszulösen: Es gebe keinen Grund, jetzt über schärfere Waffengesetze zu reden. Damit ist das Feld bereitet für die politische Auseinandersetzung der nächsten Wochen.
Auf hundert Amerikaner kommen 90 Waffen
Vor fünf Monaten, nach dem Massaker von Aurora, hatte Obama in seiner ersten Stellungnahme noch nichts zu politischen Konsequenzen gesagt. Ein paar Tage später äußerte er, dass ein Sturmgewehr, wie es der Attentäter benutzt hatte, „auf die Schlachtfelder von Kriegen, nicht auf die Straßen unserer Städte“ gehöre. Er wolle „einen Konsens zur Verminderung der Gewalt“ erreichen und dafür „alles prüfen, was wir tun können, um unsere Kinder zu schützen“. Zugleich hob er ausdrücklich hervor, dass er das in der Verfassung verankerte Recht jedes Amerikaners respektiere, Waffen zu tragen. Es gebe in Amerika „eine Tradition des Waffenbesitzes, die von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird“.
So sprach ein Mann, der wiedergewählt werden wollte. Das kann auch ein Demokrat in Amerika nur schaffen, wenn er Wähler gewinnt, denen die Waffe im Nachttisch so wichtig ist wie das Bier im Kühlschrank. Denn das ist die große Paradoxie dieses Landes, seiner Bürger: Obwohl die Zahl der Verbrechen mit Schusswaffen steigt, obwohl ein schreckliches Massaker seit Jahren auf das nächste folgt, ist der Glaube an die Selbstjustiz nicht geschwunden. Er scheint sogar immer stärker zu werden.
Auf hundert Amerikaner kommen mittlerweile 90 Waffen – in keinem anderen Land der Welt ist die Bevölkerung so hochgerüstet. Jedes Jahr sterben 30.000 Amerikaner an Schussverletzungen, weitere 70.000 werden verwundet, auch das Angaben wie aus einem Kriegsgebiet. Und doch nimmt die Zahl der Bürger, die für strengere Waffengesetze eintritt, stetig ab. Gut die Hälfte der Bevölkerung ist dagegen, Sturmgewehre zu verbieten. Nur ein Viertel ist bereit, Handwaffen zu verbieten.
Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem Drang nach Waffen und den Massakern in Schulen und an Universitäten. Und dieser Zusammenhang ist, zumindest für Europäer, verstörend: Mit den Gewaltakten und den Berichten darüber ist der Urinstinkt jedes Amerikaners geweckt und verstärkt worden: dass er im Zweifel für sich selbst sorgen muss, dass er sich auf den Staat weder verlassen kann noch darf. Genau das war die Erfahrung der Siedler, die das Land von Ost nach West eroberten und die Indianer vertrieben. Sie waren immer zuerst da, bevor ihnen ein Soldat oder Polizist hätte helfen können.
Aus diesem Geist entstand 1791 der zweite Verfassungszusatz: „Da eine wohl organisierte Miliz für die Sicherheit eines freien Staates notwendig ist, darf das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen, nicht beeinträchtigt werden.“Es gab einen jahrzehntelangen Streit über die Frage, was dieser Satz heute noch bedeutet. Ist mit dem Verschwinden von Milizen nicht auch das Recht der Bürger verwirkt, sich zu bewaffnen? So sahen es die Befürworter strenger Waffengesetze. Ein Gesetz von 1975 hatte immerhin den Besitz von Handfeuerwaffen verboten.
Ausgenommen waren lediglich solche Waffen, die vor 1975 registriert wurden oder sich im Besitz von Gesetzeshütern befanden. Alle anderen Waffen durften nur ungeladen und demontiert oder zumindest besonders gesichert aufbewahrt werden. Dieses Gesetz galt zwar allein für den District of Columbia, die bundesunmittelbare Hauptstadt. Aber die Gegner der Waffenkontrolle unternahmen alles, um es zu revidieren. Im Jahr 2007 entschied ein Berufungsgericht in ihrem Sinne, der Fall landete beim obersten Gericht, dem Supreme Court. Die Richter erklärten ein Jahr später das Gesetz von 1975 in allen wichtigen Bestimmungen für verfassungswidrig.
Ein Riesenerfolg für die Waffenlobby – und der Auftakt zu zahlreichen Gesetzen des Bundes und der Einzelstaaten, die den Waffenbesitz wieder lockerten. Im Bundesstaat Virginia dürfen die Bürger seit zwei Jahren wieder verdeckt Waffen tragen, wenn sie Bars und Restaurants mit Alkoholausschank besuchen – dieses Privileg hatten vorher nur Ordnungshüter. Außerdem dürfen die Bürger wieder mehr als eine Waffe pro Monat – nein, nicht pro Jahr – kaufen. Das Gesetz war nach dem Massaker an der Universität Virginia Tech auf den Weg gebracht worden; 2007 hatte ein Attentäter 32 Menschen erschossen.
In mehr als zwanzig Bundesstaaten gab es nach diesem Massaker Gesetzesinitiativen, um Studenten das Tragen von Waffen auf dem Campus zu erlauben – in Utah, Wisconsin und Mississippi führten sie zum Erfolg. Dagegen setzten Waffenbefürworter in Indiana durch, dass Angestellte Waffen in ihren Fahrzeugen aufbewahren dürfen, auch wenn sie auf dem Firmengelände parken. Präsident Obama unterzeichnete 2009 zwei Gesetze, die den Waffenbesitz lockerten. Eines erlaubt den Bürgern, voll aufmunitioniert Nationalparks zu besuchen – es könnte ja zu Wildangriffen kommen. Das andere lässt es zu, dass Waffen in Amtrak-Zügen im Gepäck mitgenommen werden dürfen – damit Reisende sich auch in der Ferne verteidigen können.
Den Urinstinkt zügeln
Im Wahlkampf hatte der Kandidat Obama noch versprochen, er werde sich als Präsident für ein Verbot von Sturmgewehren einsetzen. Das sind voll- und halbautomatische Waffen, die allein für militärische Zwecke hergestellt werden, etwa das AK-47. Unter Präsident Clinton waren sie 1994 verboten worden. Doch galt das Verbot nur für zehn Jahre, und seitdem ist keine Mehrheit in Sicht, um es wieder in Kraft zu setzen. Es gibt etwa vier Millionen solcher Waffen in Amerika.
Allein das Versprechen des Kandidaten Obama bescherte seinerzeit den Waffenhändlern ein glänzendes Weihnachtsgeschäft: Nach seiner Wahl schossen ihre Verkäufe in die Höhe, auf Waffenmessen wurden Besucherrekorde gemeldet. Die Zahl der sogenannten FBI-Backgroundchecks – jeder Waffenkäufer muss nachweisen, dass er nicht vorbestraft ist – stieg um eine halbe Million. Die wichtigste Waffenlobby, die National Rifle Association (NRA) mit mehr als vier Millionen Mitgliedern, kurbelte das Geschäft mit einer Angstkampagne gegen Obama kräftig an.
Nach seiner Wiederwahl muss Barack Obama sich nicht mehr vor der Waffenlobby fürchten. Die NRA ist sogar geschwächt, sie brachte weniger Kandidaten in den Kongress als früher. Es gäbe also gute Gründe für den Präsidenten, sich in seiner zweiten Amtszeit ein Herz zu fassen und auf schärfere Waffengesetze zu dringen. Doch damit käme er nur durch, wenn er den Urinstinkt der Bürger zur Selbstjustiz zügelt. Und das dürfte schwer werden nach der Tragödie von Newtown.
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