Lateinamerika braucht mehr Beachtung im neuen geopolitischen Kräftemessen
Nach dem Ende des Kalten Krieges haben die USA die strategische Bedeutung Lateinamerikas aus den Augen verloren. Das erweist sich nun als Fehler.
In den 1980er Jahren war Zentralamerika ein Fokus der globalen Auseinandersetzung zwischen den USA und der Sowjetunion. Nach dem Sieg der sandinistischen Revolution in Nicaragua 1979 drohten auch in El Salvador und Guatemala von Moskau unterstützte Guerillabewegungen die Macht zu ergreifen.
Jeane Kirkpatrick, eine der Architektinnen von Präsident Ronald Reagans Aussenpolitik und Botschafterin Washingtons bei der Uno, erklärte Zentralamerika zur wichtigsten Region im globalen Ringen. Mit Waffenlieferungen, Militärberatern und grossen finanziellen Mitteln taten die USA alles, um zu verhindern, dass moskautreue Regime in ihrem südlichen «Hinterhof» Fuss fassen konnten.
Doch mit dem Ende des Kalten Krieges 1989 geriet dieses Prinzip in Vergessenheit. Die USA betrachteten sich als dominierende Macht in einer friedlichen Welt ohne Herausforderung durch andere Grossmächte. Ähnlich wie die Europäer glaubten sie, in dieser neuen Epoche des Friedens ihre militärische Verteidigungsfähigkeit vernachlässigen zu können. Lateinamerika wurde sich selbst überlassen.
Lange Tradition amerikanischer Vorherrschaft
Dies ist umso bemerkenswerter, als die Forderung nach amerikanischer Oberhoheit über Lateinamerika seit dem Zerfall des spanischen Kolonialreichs am Anfang des 19. Jahrhunderts trotz allen geopolitischen Wandlungen ein unumstössliches Prinzip der amerikanischen Aussenpolitik gewesen war. Formalisiert wurde dieses 1823 mit der Monroe-Doktrin, welche Lateinamerika zur Einflusssphäre der USA erklärte, wo diese keine Einmischung von Mächten aus anderen Kontinenten duldete.
Im 19. Jahrhundert ging es darum, revanchistische Pläne der europäischen Monarchien abzuwehren, welche versuchten, ihre Kontrolle über Lateinamerika zurückzugewinnen. Paradebeispiel dafür ist der Versuch Napoleons III., in Mexiko ein europäisches Kaiserreich einzurichten. Dieses Vorhaben scheiterte auch dank der amerikanischen Unterstützung gegen die Europäer rasch.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ging es dann darum, sich in den beiden Weltkriegen die Unterstützung Lateinamerikas für die Alliierten zu sichern und zu verhindern, dass die Achsenmächte bzw. Hitlerdeutschland in Lateinamerika Fuss fassen konnten. Besonders während des Zweiten Weltkriegs spielte Lateinamerika eine bedeutende Rolle für die Kriegführung der Alliierten als Lieferant wichtiger Rohstoffe und landwirtschaftlicher Güter. Unmittelbar danach wurde im Kalten Krieg die Abwehr des sowjetischen Einflusses in Lateinamerika zur Maxime der amerikanischen Aussenpolitik.
Lateinamerika ist weiterhin ein Rohstofflieferant von globaler Bedeutung. Es verfügt über zwei Drittel der bekannten Lithiumreserven und 40 Prozent der Kupferreserven, beides Rohstoffe, die zentral sind für die Energiewende. Ausserdem liefert die Landwirtschaft Lateinamerikas 45 Prozent der auf dem Weltmarkt gehandelten Agrarprodukte.
Mit dem neu aufgeflammten geopolitischen Konflikt zwischen dem Westen und der Allianz der autoritären Mächte China, Russland und Iran zeigt sich, dass die Vernachlässigung Lateinamerikas seit 1989 ein Fehler gewesen ist. Letztere sind seit der Jahrtausendwende in Amerikas «Hinterhof» keineswegs untätig geblieben. Rund 3000 Kilometer südlich von Washington hat sich mit Unterstützung der drei Staaten in Venezuela ein offen gegen die USA auftretendes Regime etabliert. Von dort aus könnte die autoritäre Allianz die USA mit Mittelstreckenraketen bedrohen.
Zunehmender Einfluss Chinas
Besonders China läuft in Lateinamerika den USA immer mehr den Rang ab. Sieht man vom wirtschaftlich stark mit den USA verbundenen Mexiko ab, so ist China in der Region bereits zur wichtigsten Exportdestination für lateinamerikanische Güter geworden.
Peking ist inzwischen auch ein bedeutender Kreditgeber für die Region. Allein die zwei Staatsbanken China Development Bank und Export-Import Bank of China haben ausstehende Kredite in der Höhe von 138 Milliarden Dollar in Lateinamerika. Das ist mehr als die entsprechenden Kredite der Weltbank, der Interamerikanischen Entwicklungsbank und der Südamerikanischen Entwicklungsbank zusammen. Diese wirtschaftliche Abhängigkeit wird China zunehmend Möglichkeiten eröffnen, auch politisch Einfluss zu nehmen.
China ist zudem beim Bau einer bedeutenden Zahl von Infrastrukturprojekten in Lateinamerika federführend – Häfen, Dämme, Strassen und Eisenbahnlinien. Allein zum Neu- oder Ausbau von Häfen verfügt es über mehrere Dutzend Abkommen. Dass diese Häfen dereinst nicht nur zivilen, sondern auch militärischen Zwecken dienen könnten, ist ein offenes Geheimnis.
Die Gefahr ist real, dass das Reich der Mitte neue Länder der Region auf seine Seite zieht, ein Netz von Militärbasen errichtet und die westlich-demokratische Ordnung in weiteren Staaten aushöhlen könnte. Es verbreitet in der Region sein eigenes Entwicklungsmodell, das mit westlichen Werten nicht kompatibel ist. Und es hilft Autokraten wie Nicolás Maduro mit Technologie, die Opposition zu unterdrücken.
Bereits jetzt führt aber der chinesische wirtschaftliche Einfluss in Lateinamerika zu strategischen Verschiebungen, wie etwa das Beispiel Taiwan zeigt. Die Insel genoss traditionellerweise die Unterstützung einer Reihe kleinerer lateinamerikanischer Staaten. In den letzten Jahren haben Panama, die Dominikanische Republik, El Salvador und Nicaragua ihre diplomatischen Beziehungen zu Taipeh abgebrochen und stattdessen Botschaften in Peking eröffnet.
Den Amerikanern müssten besonders die seit 2017 zunehmend engen Beziehungen zwischen China und Panama zu denken geben. Was würde es bedeuten, wenn Panama chinesischen Schiffen in Zukunft bevorzugten Zugang zum Kanal geben würde? Seit letztem Jahr ist die Kapazität der Wasserstrasse wegen klimabedingter Trockenheit eingeschränkt. Die Vereinigten Staaten sind für Importe und Exporte stark vom Kanal abhängig. Zwei Drittel des Schiffsverkehrs von und zu den USA passiert die Wasserstrasse.
Was kann der Westen tun?
Wie könnte der Westen der zunehmenden Einflussnahme von China in Lateinamerika entgegenwirken? Die amerikanische Politik des 20. Jahrhunderts wäre heute nicht mehr opportun. Direkte Militärinterventionen oder die Stützung von autoritären Regierungen wären kontraproduktiv.
Vielmehr sollte der Westen seine Wirtschaftsmacht als Mittel einsetzen. Wenn die Lateinamerikaner den Eindruck erhielten, dass sie mit einer engeren wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit dem Westen ihre Gesellschaften voranbringen können, würden sie sich die Unterstützung nicht bei den Chinesen holen. Dies würde aber bedingen, dass sie von den USA und Europa auf Augenhöhe behandelt würden und nicht als blosse Juniorpartner, denen gesagt wird, was sie zu tun haben – wie einst zur Zeit der Kolonialregime.
Freihandelsverträge wären ein geeignetes Mittel, um die Zusammenarbeit zu stärken. Sie würden auch dem Bedürfnis nach Nearshoring entsprechen, das vor allem in den USA ausgeprägt ist, um die Abhängigkeit von China in den Lieferketten zu reduzieren. Mit der Americas Act haben Republikaner und Demokraten im März in beiden Häusern des Kongresses eine Gesetzgebung angestossen, die bezweckt, Handel und Investitionen in Lateinamerika anzukurbeln. Sie soll lateinamerikanischen Ländern, welche gewisse Standards in Bezug auf Demokratie, Handel und Rechtsstaatlichkeit erfüllen, dereinst ermöglichen, dem Freihandelsabkommen zwischen den USA, Mexiko und Kanada beizutreten.
Auf europäischer Seite ist das Ringen um ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und dem gemeinsamen südamerikanischen Markt Mercosur ein Trauerspiel. Trotz jahrelangen Verhandlungen und obwohl die Südamerikaner dieses unter Führung von Präsident Lula da Silva zu einer Priorität gemacht haben, kommt es nicht voran.
Die Schuld fällt insbesondere auf die Europäer. Eine Minderheit der EU-Länder sperrt sich, weil diese darin eine unwillkommene Konkurrenz für die eigene Landwirtschaft sehen. Doch landwirtschaftliche Exporte sind nun einmal eine der Stärken der wichtigsten südamerikanischen Wirtschaften. Will man ernsthaft Freihandel, kann man diesen nicht gerade auf dem Bereich ausschliessen, auf dem die andere Seite stark ist.
Anderen Ländern gehen die geplanten Umweltstandards zu wenig weit. Doch ist es sinnvoll, ein Abkommen deswegen zu blockieren, wenn die praktische Folge einfach ist, dass noch mehr Agrarprodukte nach China geliefert werden, das kaum Umweltauflagen macht?
Siebzig Prozent der Weltbevölkerung leben heute in Autokratien. Keine andere Region im sogenannten globalen Süden ist Europa und den USA kulturell so stark verbunden wie Lateinamerika – mit einer dreihundertjährigen Kolonialgeschichte und bis heute geführt von europäischstämmigen Eliten. Und in keiner anderen Region in diesem Teil der Welt ist die Demokratie inzwischen so stark verwurzelt, mit regelmässigen Machtwechseln in der überwiegenden Zahl der Länder. Im sich zuspitzenden Konflikt zwischen dem Westen und der Allianz autoritärer Mächte sind wir auf die Unterstützung von Lateinamerika angewiesen.
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