The Delegate From Germany- a Definitive Peacenik

<--

Die Delegierte aus Germany – Definitiv ein Peacenik

Shari Temple fährt zum Parteitag der Demokraten in Denver, auf dem Barack Obama nominiert wird – als einzige Delegierte aus Deutschland für die Organisation Democrats Abroad. VON PHILIPP GESSLER

DAS VERFAHREN Am Mittwoch werden etwa 4.200 Delegierte auf dem Parteikonvent der Demokraten Barack Obama als ihren Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen im November wählen. Mit dabei ist die 57-jährige Shari Temple aus Marzling bei München. Die Amerikanerin ist die einzige Delegierte aus Deutschland. Sie setzte sich in einem komplizierten Auswahlverfahren in ihrer Organisation Democrats Abroad (DA) als eine von 22 Delegierten durch – insgesamt leben etwa 6 Millionen US-Amerikaner im Ausland. Der Wahlprozess begann im Januar in München. Es folgten weitere Wahlen im März in Brüssel sowie ein Treffen in Vancouver Mitte April. In Denver werden die 22 Delegierte insgesamt 11 Stimmen haben.

Eine amerikanische Kleinstadt im Jahre 1961. Ein zehnjähriges Mädchen geht von Haustür zu Haustür. Sie macht Werbung für ihren Vater, der für einen Sitz im örtlichen Rat kandidiert. Beherzt klingelt sie bei all den lieben Nachbarn, ab und zu darf sie in die Vorgärten ein Schild mit dem Plakat ihres Vaters rammen. An einer Tür aber ist der Empfang frostig. Die Hausfrau erklärt mit verkrampfter Höflichkeit, das mit dem Schild gehe nicht, sie hätten nämlich schon eines: das ihres Ehemannes, des direkten Gegenkandidaten vom Vater des Mädchens.

Weit weg von Muskogee, Oklahoma, auf einer hellen Wohnzimmercoach im Dorf Marzling bei München, erzählt die mittlerweile 57-jährige Computerexpertin Shari Temple diese Geschichte. Es ist die Geschichte von ihren ersten politischen Erfahrungen. Dabei leuchten ihre Augen angesichts des ersten Flops – dies ist ihre Art von Humor, trocken, selbstironisch, politisch. Dazu passt auch die Anekdote, wie ihr Vater sie als junges Ding später zu kleinen Auftritten von Lyndon B. Johnson und Richard Nixon in der Provinz von Oklahoma schleppte, sie drängte, den US-Präsidenten die Hand zu drücken. Und vielleicht, erzählt sie, wird sie übermorgen Shakehands mit ihrem drittem Präsidenten machen, mit einem in spe: Shari Temple ist die einzige Delegierte aus Deutschland, die in Denver bei der großen Show dabei sein darf, wenn Barack Obama offiziell zum Präsidentschaftskandidaten der Demokraten gewählt wird. Sie freut sich, mitjubeln zu können – auch wenn das mit dem Händedruck wohl nicht klappen wird, wie sie mit einem ironischen Lächeln einräumt: Mehr als 4.000 Delegierte werden bei diesem Wahlparteitag erwartet.

Und viele Millionen Menschen in der ganzen Welt werden via Fernsehen dabei sein, wenn in Denver, Colorado, der Mann aufs Schild gehoben wird, der bald die mächtigste Person auf dem Globus sein will. Ein seltsamer Gedanke, dass auch dieses leicht verkitschte Wohnzimmer in Marzling irgendwie mit dem Weißen Haus in Washington zusammenhängt, dass ein winziges Zipfelchen Weltpolitik auch hier zwischen Katzenkratzbaum und Esszimmer-Sitzbank gemacht wird. Aber wer ist diese Shari Temple? Und wie hat es sie hierher nach Marzling zwischen Stoppelfelder und Gartenzwerge verschlagen?

Shari Temple wurde in eine typische amerikanische Mittelstandsfamilie geboren, “middle-middle class”, wie sie sagt: Ihre Mutter war Buchhalterin und Hausfrau, ihr Vater Makler und Lokalpolitiker. Darüber wäre nicht mehr viel zu sagen, wenn ihr Familienhintergrund nicht doch eine interessante Farbe hätte: Mütterlicherseits stammt Shari Temple vom Stamm der Creek ab – und wenn man das weiß, glaubt man in ihrem Gesicht auch ganz zarte indianische Züge zu entdecken, “indian”, wie man auf Amerikanisch sagt, oder “native american”, um es politisch korrekt zu formulieren.

Diese familiäre Herkunft ist nicht ohne Bedeutung für Shari Temple, denn sie spielte eine Rolle in ihrem politischen Denken. Ihre indianische Großmutter wurde Anfang des 20. Jahrhunderts noch in einem Indianerreservat geboren, erst später erhielt sie die amerikanische Staatsbürgerschaft. Nahe Verwandte der Mutter von Shari Temple wurden erschossen – Opfer von Gewaltverbrechen, die nicht geahndet wurden, weil es ja “nur Indianer” waren, wie ihre Familientradition berichtet. Wenn sie eines Tages in die USA zurückkehren und sich politisch engagieren sollte, dann wohl für ihr Volk der Creek, ihre “nation”, so sagt es Shari Temple. Es gebe da so viel zu tun bei der Bildung, im Kampf gegen die Armut. “Ich hätte das Verlangen zu helfen. Das wäre abenteuerlich”, sagt sie.

Helfen, verändern, politisch aktiv sein – immer wieder nimmt sie am Wohnzimmertisch in Marzling diese Vokabeln in den Mund. Sie wäre, in deutscher Terminologie, eine gute 68erin, allerdings geprägt von den großen amerikanischen Umbrüchen dieser Zeit: vom Kampf der Schwarzen um Martin Luther King für gleiche Bürgerrechte, vom Engagement der Studentinnen und Studenten gegen den Vietnamkrieg, ein wenig auch von Flower Power und sicher von der Frauenbewegung. Im turbulenten Jahr 1968 fing Shari Temple ihr Studium der Mathematik und der Informatik (Computer Science) an der Universität von Arkansas an.

Shari Temple war die einzige Frau neben 40 Kommilitonen ihres Jahrgangs. Noch heute engagiert sie sich in zwei weltweiten Netzwerken zur Förderung von Frauen im Management und in technischen Berufen. Es gehe darum, heranwachsenden Frauen zu zeigen, dass sie in diesen Feldern Chancen hätten, sagt sie mit Eifer – sie jedenfalls habe in ihren vielen Jahren als Managerin in IT-Unternehmen wie Texas Instruments nie Diskriminierung erfahren. Sie brennt für ihre Arbeit: “Ich will Probleme mit Maschinen lösen”, sagt sie. Und: “Ich liebe Mathematik!”

Politisch relevant aber werden ihre frühen Jahre am College und im späteren Berufsleben durch die Erfahrung des enormen gesellschaftlichen Wandels, der sich damals vollzog: Als sie mit dem Studium in Arkansas anfing, gab es noch getrennte Waschbecken für Schwarze und Weiße an der Uni. Die “Coloured” waren in der krassen Minderheit: 11 unter 13.000 Studenten. In ihrem ersten Jahr auf dem Campus gab es erstmals einen schwarzen Quarterback im Footballteam, er ist der Führungsspieler in der amerikanischsten aller Sportarten. Der Sportler wurde gnadenlos ausgepfiffen, wenn er auch nur den kleinsten Fehler machte. Am Ende ihres Studiums war die Hälfte der Mannschaft schwarz.

Noch prägender aber als die Erfahrung des langsamen Endes der strikten Rassentrennung war der Krieg in Vietnam für Shari Temple: Sie engagierte sich, versuchte, etwa mit Briefen nach Washington, zu verhindern, dass Freunde von ihr eingezogen wurden – vergeblich. “Ich habe zwei meiner Freunde in Vietnam verloren”, sagt Shari Temple, “und andere sind gebrochen zurückgekommen.” Diese Prägung ist ein entscheidender Grund, warum sie heute so bitter über das Irakdesaster der US-Armee schimpft. “Ich bin definitiv ein Peacenik”, sagt sie ernst und mit einem Stolz, der diesem Wort neuen Glanz gibt.

Hier liegt auch ein wesentlicher Grund, weshalb sie sich für Barack Obama engagiert. Denn der hat versprochen, die amerikanischen Truppen so schnell wie möglich aus dem Irak abzuziehen. Dass Obama zugleich zumindest angedeutet hat, er werde von Deutschland mehr militärisches Engagement der Bundeswehr in Afghanistan einfordern – diese Aussage gefällt ihr nicht so gut. “I am pretty anti-war”, sagt sie – und das ist schwer ins Deutsche zu übersetzen. Auch Obamas schwammige Position in Sachen Todesstrafe stören Shari Temple. Na ja, meint sie, man könne ja nicht mit allen Positionen eines Kandidaten übereinstimmen. Dennoch, er müsse ins Weiße Haus. Und er werde es auch schaffen, sagt sie mit einem Lächeln, das eher tapfer als siegessicher wirkt. Sie beißt sich dabei sanft auf die Unterlippe.

Shari Temple ist nüchtern, vielleicht wird man das, wenn man sich Jahrzehnte in der Männerwelt des IT-Business zu behaupten hat. Aber die Welt verbessern will sie auch. Deshalb ist sie nach ihrer Frühpensionierung vor drei Jahren in ein Unternehmen eingestiegen, das Softwareprogramme für Hilfsorganisationen erstellt. Es ist ein ehrenamtlicher Job, der sie in den letzten Wochen immer wieder zu Kurztrips nach Südafrika geführt hat.

Es dürfe doch nicht sein, sagt Shari Temple fast empört, dass weltweite Hilfe aus Informationsmangel völlig fehlschlagen, etwa wenn nach der Flutkatastrophe in Atlanta das Rote Kreuz ein Lager bauen müsse, um all die gespendeten Teddybären unterzubringen. “Es gibt genug Nahrung auf der Welt, um alle Menschen zu ernähren”, sagt sie. Es komme nur auf die richtige Verteilung an – und da helfe sie mit ihrem Unternehmen: “Ich habe gerade den perfekten Job”, sagt sie, “es ist großartig.” Sie helfe Menschen, die Hunger haben – “und ich nutze dabei meine Talente.” Shari Temple ist eine Idealistin der amerikanischen Art: ziemlich professionell, klar pragmatisch – und irgendwie auch patriotisch.

Letzteres war auch ein Motiv, weshalb sich Shari Temple für die Democrats Abroad, die Auslandsorganisation der US-Demokraten, engagierte: die Empörung darüber, dass George W. Bush, den sie noch aus seiner Zeit als Gouverneur von Texas kennt, nicht nur so knapp Präsident werden konnte, sondern auch noch wiedergewählt wurde. In einem ziemlich aufwändigen und vorbildlich demokratischen Verfahren mit Stationen in München, Brüssel und Vancouver (siehe Kasten) wurde sie von den Auslandsdemokraten delegiert, am Mittwoch in Denver ihre Stimme für Obama abzugeben. Ihr Lebensgefährte, Manfred, für den sie nach Marzling kam, wird ihr im TV zuschauen.

Übrigens: Alle Reisekosten, auch die Ausgaben für ihren eigenen Wahlkampf und den Trip nach Denver, zahlt sie aus eigener Tasche – dabei hat sie in Denver gar nichts mehr zu sagen, nur abstimmen darf sie dort noch. Sie wird in der jubelnden Menge stehen. Die Sprecherin der Democrats Abroad wird nach dem Staat Delaware aufgerufen werden, um zu verkünden, wie viele Stimmen an Hillary Clintion gehen und wie viele an Barack Obama. Shari Temple verspricht zum Abschied in Marzling, sie werde in die Kameras winken, wenn sie ganz vorne zu stehen komme.

About this publication