The Group of 20 Egoists

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Die Gruppe der 20 Egoisten

Von Mark Schieritz | © DIE ZEIT, 19.02.2009 Nr. 09

Gestern G7, morgen G20: In mehreren Zirkeln kämpfen die Staaten gegen den Protektionismus – und gegen die eigene Verführbarkeit

Tim Geithner steht vor einer schweren weißen Holztür. Sie führt in den Ballsaal des Hotels Excelsior in Rom. Der neue amerikanische Finanzminister will der Welt erklären, wo die USA stehen. Es ist sein erster internationaler Auftritt. Doch ausgerechnet jetzt streiken die Mikrofone. Eben ging der G-7-Gipfel zu Ende, Geithner hat zwei Tage mit seinen Kollegen aus den anderen großen Industrienationen verbracht, er hat ihnen den amerikanischen Bankenrettungsplan erklärt, er hat mit Peer Steinbrück über Protektionismus gesprochen. Die deutsche Regierung sorgt sich, dass die Amerikaner ihre Märkte abschotten, weil ihr Konjunkturpaket heimische Unternehmen bevorzugt.

Geithners Vorgänger, der bullige Wall-Street-Veteran Henry Paulson, hätte an dieser Stelle den Raum mit einem überdimensionierten Sternenbanner dekorieren lassen, er wäre in den Saal gestürmt, hätte ein vorbereitetes Statement abgelesen, zwei oder drei Fragen ausgewählter US-Journalisten zugelassen und wäre wieder verschwunden. Statt des Sternenbanners zieren nun die Flaggen der G-7-Mitglieder den Raum. Als der Ton schließlich funktioniert, öffnet man Geithner, dem eher schmalen Karrierebeamten, die Saaltür. Er nimmt sich für die wenigen Meter zum Rednerpult viel Zeit, wirft hin und wieder einen verstohlenen Blick zum Publikum, so als wolle er herausfinden, ob er willkommen ist. Wenn er Fragen beantwortet, fixieren seine Augen den Gesprächspartner. Er holt noch einmal aus, wenn er Skepsis registriert, und wirkt erleichtert, wenn der Fragesteller zustimmend nickt.

Herr Geithner, schotten die Amerikaner ihre Märkte ab?

»Wir haben die Bedenken zur Kenntnis genommen, und der Präsident hat darauf reagiert. Wir werden unsere Grenzen offen halten.«

Die Zurückhaltung des Ministers unterstreicht die Botschaft seines Auftritts: Amerika hört wieder zu, es braucht seine Partner, das ist sein Signal an die Welt. Und die achtet in diesen Tagen auf solche Dinge. Sie sollen Aufschluss geben, ob die Staaten kooperieren oder ob jeder seinen eigenen Weg geht. Das klingt lapidar, doch daran hängt der Wohlstand der Nationen. Die Geschichte zeigt: Abschottung führt in den ökonomischen Abgrund.

So wie im Sommer 1931. Am 8. Juli sprach der Chef der Danatbank, damals eines der größten deutschen Finanzinstitute, bei Hans Luther vor, dem Präsidenten der Reichsbank. Das Institut sei praktisch zahlungsunfähig. Das nach dem Krieg durch Reparationszahlungen geschwächte Deutschland hat kaum noch Geld, also reist Luther nach London und Paris. Einen Kredit über eine Milliarde Dollar benötige er, um das Finanzwesen zu stabilisieren, vertraute Luther seinem britischen Kollegen Montagu Norman an. Doch Luther holt sich eine Abfuhr ein. Großbritannien kämpft selbst mit Finanzproblemen, Frankreich knüpft für Deutschland unerfüllbare politische Bedingungen an eine Kreditvergabe, und die Amerikaner wollen sich nicht einmischen. So bleiben am 13. Juli die Schalter der Danatbank geschlossen, vor den Filialen bilden sich Schlangen. Die Weltwirtschaftskrise ist in Deutschland angekommen.

Immer wieder versagt in den Jahren darauf die internationale Kooperation. Um ihre Konjunktur zu stützen, werten viele Länder ihre Währung ab und errichten Grenzen für den Handel. Sie wollen sich einen Vorteil verschaffen, ihre heimischen Unternehmen stützen und schützen gegen ausländische Konkurrenz. Doch am Ende ziehen sich die Volkswirtschaften gegenseitig nach unten.

Für die Architekten der Nachkriegsordnung war die mangelnde internationale Abstimmung ein zentraler Grund für die Depression der dreißiger Jahre – und die politische Radikalisierung jener Zeit. Sie errichteten deshalb ein ganzes Netzwerk von Institutionen und Foren, die die Länder dazu bringen sollen, miteinander und nicht gegeneinander zu handeln. Sie gründen auf der Überzeugung, dass offene Märkte und ein freier Handel zu einem vorher nicht gekannten Wohlstand der Welt geführt haben. Es sind die Sicherheitsnetze für die Weltwirtschaft. Und für den Frieden. Sie sollen aus Einzelkämpfern Teamplayer machen, basierend auf dem freien Willen der Beteiligten. Einen anderen Weg gibt es nicht, denn souveräne Staaten können zu nichts gezwungen werden.

Am Sonntag, eine Woche nach dem G-7-Gipfel in Rom, empfängt Bundeskanzlerin Angela Merkel die Staatschefs aus Großbritannien, Italien, Frankreich, Spanien und den Niederlanden in Berlin, um eine gemeinsame europäische Position im Kampf gegen die Krise zu finden. Kurz darauf treffen sich die führenden Industrie- und Schwellenländer der G20 in London, um eine neue Weltfinanzordnung zu verabreden. Wenige Wochen später kommen in Washington die Mitgliedstaaten des Internationalen Währungsfonds (IWF) zusammen, der die internationale Finanzstabilität überwacht.

In den Theorien der Ökonomen ist klar, was auf diesen Weltwirtschaftsgipfeln beschlossen werden müsste: Überschuldete Länder wie die USA oder Großbritannien verpflichten sich zu sparen, um ihre Finanzen in Ordnung zu bringen, solide Staaten wie Deutschland, Japan oder China geben mehr Geld aus, um den so entstehenden Ausfall der globalen Nachfrage wettzumachen. Das Bankensystem wird neu saniert und reguliert, damit die globalen Finanzströme wieder fließen können, und Länder, die ins Straucheln geraten, erhalten Finanzhilfen. Denn in Zeiten globaler Märkte sind die Staaten voneinander abhängig – in guten Jahren ziehen sie sich gegenseitig nach oben, in schlechten nach unten. Deshalb brechen die deutschen Exporte ein, weil die amerikanischen Verbraucher streiken. Deshalb reißt der Staatsbankrott Islands Löcher in die Bilanzen deutscher Geldinstitute.

Die Praxis allerdings sieht anders aus: Bundesfinanzminister Peer Steinbrück hatte keine neuen Konjunkturpakete mit nach Rom gebracht, sondern wollte mit seinen Kollegen schon darüber sprechen, wie sich der Staat wieder aus der Wirtschaft zurückziehen kann. China will international mitreden, ist aber nicht bereit, sich an teuren Rettungsaktionen zu beteiligen. Frankreich fordert die Automobilindustrie auf, Werke in Osteuropa zu schließen, die USA haben die protektionistischen Klauseln im Konjunkturpaket zwar abgeschwächt, aber nicht ganz gestrichen, Großbritannien legt seinen Banken nahe, vor allem den Heimatmarkt zu bedienen. Das könnte ganze Regionen destabilisieren, deren Bankensystem in ausländischer Hand ist. Osteuropa ist so ein Fall – und andere Staaten würden mit in den Abgrund gerissen, wenn der Osten in Zahlungsschwierigkeiten kommt. »Jämmerlich« sei die Performance der Staatengemeinschaft, urteilt die britische Financial Times.

Vielleicht liegt das daran, dass sich der politische Alltag nicht in römischen Nobelhotels abspielt, sondern in Wahlkreisen, Parlamenten und Parteisitzungen. Dort geht es nicht um die Rettung der Welt, sondern um das eigene Land oder die nächsten Wahlen. Da muss sich die Regierung mit Politikern wie Walter Hirche auseinandersetzen. Hirche ist Mitglied der FDP in Niedersachsen. Wenn Niedersachsen dem Konjunkturpaket nicht zustimmt, wird es vielleicht nicht Gesetz, denn die Koalition hat nicht genug Stimmen im Bundesrat. Und Hirche will erst zustimmen, wenn die Regierung ein paar Wünsche der FDP berücksichtigt.

Im Grunde haben die internationalen Wirtschaftsbeziehungen viel mit der Situation in einem Fußballstadion gemeinsam. Wenn einer aufsteht, sieht er mehr. Wenn die anderen nachziehen, ist der Vorteil dahin. Es geht sogar allen schlechter, weil sie jetzt stehen müssen. Wenn Steinbrück oder Geithner von ihren Gipfelausflügen nach Hause kommen, treffen sie auf jede Menge Abgeordnete und Parteistrategen, die nur zu gern ausprobieren würden, ob es nicht doch funktioniert, einfach aufzustehen. Die verhindern wollen, dass Steuergelder, die zur Rettung der Banken und der Konjunktur ausgegeben werden, ins Ausland fließen.

Auch deshalb streiten die Beamten in den Hauptstädten wochenlang über die Abschlusserklärung eines Gipfeltreffens. Was lässt sich in der Heimat noch verkaufen, was treibt ein Land international in die Isolation? Die Briten beispielsweise wehren sich gegen zu strenge Regeln für die Finanzmärkte, weil sie den Finanzplatz London schützen wollen. Die Deutschen wollen alles vermeiden, was sie zu neuen Konjunkturspritzen verpflichten könnte – hierzulande sorgt deshalb für Irritation, dass Großbritannien die G-20-Tagung in London intern als »Gipfeltreffen für Wachstum, Stabilität und Beschäftigung« ankündigt und sich nicht auf die Finanzmärkte beschränkt. Es ist ein mühsames Abwägen von globalem und nationalem Interesse.

Es gibt Experten, die deshalb schier verzweifeln. »Wenn wir so weitermachen, dann ist eine globale Depression möglich«, sagt der Londoner Wirtschaftsprofessor Willem Buiter. Auch wer in diesen Tagen mit hohen Beamten aus den großen Industriestaaten spricht, bekommt eine recht schonungslose Einschätzung der Lage zu hören. Selbst in den höchsten Stellen in den Regierungen und den Zentralbanken kursieren Szenarien, in denen von Staatspleiten, wachsendem Nationalismus die Rede ist, von einem Zerfall der Europäischen Union und anderer Nachkriegsinstitutionen, sogar von Unruhen und bewaffneten Konflikten.

Vielleicht ist es dieses Wissen um die desaströsen Konsequenzen nationaler Alleingänge, auch für das eigene Land, welches die Staaten bisher davon abhält, dem innenpolitischen Druck nachzugeben. »Wenn wir uns wirklich auf Kosten anderer sanieren könnten, dann würden wir das natürlich tun. Jeder denkt zuerst an sich. Aber wir wissen doch, was auf dem Spiel steht«, sagt ein G-7-Vertreter.

Deshalb sind, allen Anfechtungen zum Trotz, die meisten Märkte noch offen. Japan hat in Rom 100 Milliarden Dollar für den IWF bereitgestellt, um Länder in Not Finanzhilfen zu gewähren. Steinbrück vermeidet bislang eine konkrete Zusage, wenn es aber Ernst wird, so ist aus Berlin zu hören, würde auch die Bundesregierung andere Länder stützen, selbst Staaten wie Griechenland, die Mitglied der Euro-Zone sind. Die Zentralbanken helfen sich bereits gegenseitig aus. Die Federal Reserve in den USA etwa versorgt Mexiko, Brasilien und Korea mit Dollar. Und die Vorbereitungen für den Weltfinanzgipfel kommen nach anfänglichen Problemen und trotz des britischen Widerstands voran. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Geithner mit den Europäern zusammenarbeiten will: Auch eine schärfere Kontrolle von Hedgefonds kann man sich in Washington inzwischen vorstellen.

Noch ist die Welt nicht so weit wie im Jahr 1931.

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