The Age of Wrath: Part 2

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Obdachlose, die wie Zombies leben

Albuquerque, New Mexico. Eine improvisierte Schranke, eine korpulente Schwarze notiert meinen Namen auf einem Klemmbrett. Ich bin mit Jonathan verabredet, dem Manager der Joy Junction, eines christlichen Obdachlosenasyls. Hinter mir fährt ein gelber Schulbus auf den staubigen Platz. Endlose Güterzüge fahren tutend vorbei.

Mehrere flache Häuser, am größten hängt ein riesiges Kreuz, das mit Glühbirnen geschmückt ist. Ventilatoren fauchen, eine Drahttür klappert im Wind. Jonathan ist schlank und muskulös, fester Händedruck, gerader Blick in die Augen. Er ist so eloquent wie fast alle Amerikaner, kaum stehen wir im Hof, rattert er seine Zahlen herunter. 16.000 Mahlzeiten werden hier jeden Monat ausgegeben, 300 Leute können die Nacht in der Joy Junction verbringen, gut zwei Quadratkilometer ist das Gelände groß, von der Straße bis zum Fluss, knapp drei Millionen Dollar zählt das Budget. »Never turn them away.«Niemand wird abgewiesen. In der Not, wenn es gar nicht anders geht, mietet der Verein für obdachlose Familien ein Hotelzimmer. Familien sind besonders bedroht, sagt Jonathan, Familien und Veteranen. Vom Alkohol. Von Drogen. Von Schulden und Hypotheken. Von den Schlägen der Väter.

Wie viele Obdachlose gibt es in Albuquerque?, frage ich Jonathan. Hängt davon ab, wen du fragst, antwortet er. Das Housing Department, die Wohnungsbehörde, sagt 2800. Das Schulamt zählt 6000 Kinder, die angeben, ihre Eltern seien obdachlos. Vor zwei Jahren waren es nur 3500 Kinder. Albuquerque hat eine halbe Million Einwohner.

Sie sind wie Zombies, die unter uns leben, sagt Jonathan. Wie die Untoten aus Horrorfilmen. Derselbe schlurfende Gang. Dieselben verwüsteten Gesichter. Die zerrissene Kleidung, die Sprache, die sie bald verlieren. Sie werden ignoriert. Aber sie verschwinden nicht.

»Ich weiß, wovon ich rede«, sagt Jonathan.

Es braucht eine ziemliche Weile, bis ich begreife.

»Vor vier Jahren war ich noch drüben. Manager in Kalifornien. Habe 15 Jahre lang gearbeitet, 17 Stunden am Tag. Dann, mit 35, ein leichter Herzinfarkt. Ich habe mich rasch wieder erholt. Aber niemand hat mir mehr einen Job gegeben. Zu riskant. Kann den Stress nicht aushalten.« Job weg, Haus weg, Krankenversicherung weg. Und fünf Kinder zu ernähren, lauter Töchter, zwischen zwölf Monaten und zehn Jahren. Dann kam der Zusammenbruch, »eine supertiefe Depression«.

Irgendwann landete Jonathan mit seiner Familie in der Joy Junction. Sie durften neun Monate bleiben, »eine Auszeit von der Gesellschaft«, wurden betreut, kamen wieder zu sich. »Spirituell. Körperlich. Emotional. Sozial.« Jetzt managt er das Asyl, das ihn gerettet hat.

Essensausgabe für Obdachlose: Kinder zuerst, dann Eltern, dann Singles

In den Massenmedien der dreißiger Jahre kamen die Auffanglager für die »Oakies«, die Arbeitsmigranten aus Oklahoma, kaum vor. So wenig wie heute die Obdachlosen. Auch John Steinbeck war ahnungslos, was da geschah. Erst die Berichte eines Freundes rüttelten ihn auf, der Ehemann der Fotografin Dorothea Lange führte ihn durch die Camps.

Bis sieben Uhr wird in der Joy Junction geschlafen, um Viertel nach sieben sind alle Betten und Matratzen fortgeräumt, Tische werden aufgestellt, es gibt Frühstück. Manche ziehen morgens einen Anzug an, arbeiten in Albuquerque im Büro und kommen abends zum Dinner ins Asyl zurück.

Das Abendessen ist die wichtigste Mahlzeit in Amerika. Und in der Joy Junction. Einmal am Tag müssen die Obdachlosen nicht in der Schlange stehen. Einmal am Tag werden sie bedient. Am Tisch.

»Du verstehst das nur, wenn du mitmachst«, sagt Jonathan zu mir. »Hilfst du mit?«

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