Die Kontroverse um Hass- und Gewaltfantasien in den sozialen Netzwerken zeigt: Die digitale Gesellschaft muss sich wandeln.
Es war ein erhellendes Experiment, eine kluge Provokation. Am 8. September packt den Journalisten Joachim Dreykluft die Wut, wieder einmal. Er ärgert sich über Facebook, über all die Hasskommentare im Angesicht der Flüchtlingskrise, die Vergasungs- und Mordfantasien, die trotz Beschwerden und Protestaktionen vieler Menschen stehen bleiben.
Dreykluft schreibt einen Onlinekommentar, kritisiert Facebook als „asozial und heuchlerisch“ und verlinkt den Artikel mit einem Vorschaubild, das die gut erkennbaren Brustwarzen einer Frau zeigt. Er weiß, dass er damit gegen die sogenannten Gemeinschaftsstandards verstößt, weil die Erkennbarkeit von Brustwarzen im Plattform-Universum als Schlüsselreiz verbannungswürdiger Unangemessenheit gilt.
Und tatsächlich, das Bild wird entfernt, sein Facebook-Account gesperrt, er erhält die Nachricht: „Du hast kürzlich etwas gepostet, das gegen die Facebook-Richtlinien verstößt.“ Nicht wirklich gegen die Richtlinien verstößt es anscheinend, dass man Flüchtlingen den Tod wünscht, sie nach Auschwitz und in die Gaskammern transportieren will, ihre eigenhändige Erschießung herbeifantasiert oder sich über das Bild des kleinen Ailan Kurdi freut, ertrunken aufgefunden auf dem Strand der türkischen Küstenstadt Bodrum.
Die Verantwortungsfrage
Kommentare dieser Art bleiben zum Entsetzen vieler stehen, eben auch nach erfolgter Beschwerde, der schon aus juristischen Gründen eigentlich nachgegangen werden müsste. Klar, Facebook hat nach den Debatten der letzten Wochen und der Intervention von Politikern die Gründung einer Arbeitsgruppe angekündigt, einer „Taskforce“. Man hat versichert, man nehme alle Hinweise sehr ernst. Und doch bleibt – allen Absichtserklärungen zum Trotz – die Frage: Wie kann es sein, dass derartige Gewaltdrohungen trotz vielfacher Beschwerden einfach stehen bleiben, aber eine nackte Brust oder das Bild eines vollumfänglich entblößten Pos (auch diese eine nicht minder rigoros exekutierte Richtlinie) gelöscht und mit zeitweiliger Facebook-Verbannung geahndet werden?
Die erste Antwort lautet, dass es für Facebook (Jahresgewinn 2014: fast drei Milliarden Dollar) unbequem und teuer werden könnte, die unsichtbare, oft in anderen Ländern angesiedelte Armee der digitalen Müllsortierer zu verstärken. Die zweite Antwort besagt, dass es etwa in Deutschland und in den USA ein unterschiedlich rigoroses Verständnis von Meinungsfreiheit, gerade noch erlaubter Propaganda und Prüderie gibt.
Die dritte Antwort führt einen direkt in das widersprüchliche Argumentationsuniversum von Facebook selbst, weil man zwar einerseits Brustwarzenfotos und Pobilder mit einiger Energie verfolgt, aber andererseits jede redaktionelle Verantwortung strikt zurückweist. Nein, man wolle nicht eingreifen – so hat Greg Marra, zuständig für den Newsfeed-Algorithmus von Facebook und damit der mächtigste Nachrichtenmacher der Welt, den „New York Times“ gesagt. Wörtlich: „Wir möchten keinerlei redaktionelle Entscheidungen treffen, was im Feed von Ihnen erscheint.“
Man kann eine solche „technokratische Pose“ (Evgeny Morozov) als irgendwie konfus wirkende Flucht aus der Verantwortung belächeln. Aber hinter dem aktuell erlebbaren „Clash of Codes“, dem jetzigen Ringen um normative Gewissheit in einem Pool kollidierender Werte, verbirgt sich die Kernfrage der digitalen Moderne, die da heißt: Wer ist für die Qualität des Öffentlichen verantwortlich?
In einer anderen Zeit schien das ziemlich klar. Es waren mächtige Gatekeeper in Gestalt von Journalisten, institutionell fassbare publizistische Machtzentren mit enormer Deutungshoheit, die darüber entscheiden konnten, was publiziert wird und was nicht.
Drei Informationswelten
Heute lebt jeder, der einen Netzzugang besitzt und Medien konsumiert, in drei ineinander verschachtelten Informationswelten; sie sind Resultat unterschiedlich transparenter, mehr oder minder selbstbestimmter Auswahlentscheidungen.
Natürlich, die Welt der Massenmedien und des klassischen Journalismus ist entgegen anderslautenden Gerüchten nach wie vor sehr präsent, auch wenn sie aufgrund schwindender Anzeigenumsätze und sich ändernder Nutzungsgewohnheiten an Einfluss verliert. Die Auswahlentscheidungen, die hier regieren, sind zumindest prinzipiell bekannt, denn die sogenannten Nachrichtenwerte werden seit Jahrzehnten erforscht, diskutiert und kritisiert.
Demgegenüber steht die Welt der gänzlich individuellen Auswahl- und Publikationsentscheidungen, die im digitalen Zeitalter jedem auferlegt sind. Man muss und kann sich entscheiden, welchen Quellen man traut, was man postet, teilt und publiziert – und in welche Wirklichkeitsblase man sich womöglich hineingoogelt.
Tunnel der Selbstbestätigung
Die dritte Informationswelt ergibt sich aus den intransparenten Auswahlentscheidungen und Publikationsstandards, die Suchmaschinen und soziale Netzwerke verwenden. Oft sind es Algorithmen, die hier regieren, Geheimrezepte der Wirklichkeitskonstruktion also, die einzelne Nachrichten pushen und andere verschwinden lassen.
Diese Mechanismen können den Einzelnen, wie der Online-Aktivist Eli Pariser gezeigt hat, in einen Tunnel der Selbstbestätigung und eine Filterblase der eigenen Interessen und Vorannahmen hineinlocken, die er womöglich irgendwann für ein naturgetreues Abbild der äußeren Welt hält.
Es geht also – so gesehen – nicht mehr nur um die Ignoranz von Facebook, sondern darum, die drei Mächte der Öffentlichkeitsentstehung (das Individuum, den klassischen Journalismus, die Digital-Monopolisten) gemeinsam zu betrachten, um die nun entstandene Debatte weiterzuführen.
Ziel wäre die Ausweitung der publizistischen Verantwortungszone, die allmähliche Verwandlung der digitalen Gesellschaft in eine „redaktionelle Gesellschaft“ (Cordt Schnibben), die sich, neben dem privaten Vergnügen, an den Leitmaximen aufklärerischer Informationsvermittlung orientiert.
Schulen und Unis als Labor
Das hieße in der Konsequenz, dass ein normatives Verständnis der Entstehung von Öffentlichkeit an den Schulen und Universitäten gelehrt werden müsste, das auf der Höhe der Zeit ist. Schulen und Universitäten könnten sich als ein Labor begreifen, als ein geschützter, aber doch von der aktuellen Medienwirklichkeit geprägter Raum, in dem die Mechanismen des Öffentlichen studiert und erprobt werden könnten.
Die Orientierung in Richtung einer redaktionellen Gesellschaft besagt aber auch, dass die lächerlichen Ausflüchte derjenigen, die blanken Hass und zur Gewalt aufreizende Propaganda nicht löschen mögen, obwohl sich die Beschwerden häufen, politisch und juristisch nicht mehr länger tolerierbar sind. Und es bedeutet im Kern, dass heute niemand, der postet und publiziert, mehr so tun kann, als ginge ihn die Qualität des Öffentlichen nichts an.
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